Die Wacholderteufel
einen Zwischenfall? Ist vielleicht ein Kind zu Schaden gekommen? Ein kleiner Junge? Sein Name ist Mattis …»
Angstvoll weiteten sich Ninas Augen, und Wencke versuchte, sie mit einem angedeuteten Lächeln und einer zur Zurückhaltung mahnenden Geste zu beruhigen. Die Dame am Ende der Leitung bedauerte noch immer zutiefst und kramte anscheinend all die auswendig gelernten Floskeln aus, die anzuwenden sie gewohnt war, wenn allzu neugierige Journalisten nach einem schweren Unfall die Zentrale mit Fragen bombardierten. Im Grunde genommen verständlich, auch das letzte Argument,dass Wencke nun die Leitung für wichtigere Anrufe freihalten müsse, schließlich sei dies eine Notrufnummer und keine Kontaktbörse, konnte man ohne weiteres nachvollziehen.
Dennoch musste Wencke einfach wissen, was an den Externsteinen geschehen war. Hartnäckig unterbrach sie den Redeschwall: «Wissen Sie was? Sie dürfen mir nicht sagen, ob dort etwas passiert ist – das verstehe ich –, aber Sie dürfen mir mit Sicherheit sagen, wenn dort nichts passiert ist, oder?»
Die Frau seufzte ein «Meinetwegen» in den Hörer. «Aber das kann ich Ihnen eben leider nicht sagen, wenn Sie verstehen …»
«Ich verstehe. Und ist dort kein kleiner Junge verletzt worden?»
«Ja, also nein.»
«Es ist also …»
«Legen Sie jetzt bitte auf. Ich setze hier meinen Job aufs Spiel!» Wencke folgte der Anweisung. Sie legte das Handy neben Pelikan auf den Boden und schaute Nina an.
«Was ist mit Mattis?», fragte diese mit schwacher Stimme. «Um Himmels willen, was ist mit ihm passiert? Sag es mir!»
«Ich habe keine Ahnung. Ich hoffe, es geht ihm gut. Du musst mir glauben, ich habe alles getan, um deinen Sohn zu schützen, aber mir geht es selbst so schlecht und dein Mann …»
«Ist schon gut! Ich weiß, dass ich mich auf dich verlassen kann. Ich wusste im ersten Augenblick, dass du eine starke Frau bist.»
Wencke konnte sich ein ernstes Lachen nicht verkneifen. «Schön wär’s!»
«Wencke!» Nina rückte etwas näher an sie heran, nicht ohne weiterhin Pelikans Hand zu halten, nicht liebevoll, eher verantwortungsbewusst. «Ich danke dir!»
Sie schwiegen. Wencke atmete schwer. Die Wehen – inzwischen war sie sich sicher, es konnte nichts anderes sein – kamenalle vier Minuten und dauerten einige Sekunden lang an. Aber dieses Ziehen war nicht das Schlimmste. Die Angst um das Kind, die Furcht, mal wieder viel zu unvernünftig gehandelt und damit das Leben des Kindes gefährdet oder vielleicht sogar schon verspielt zu haben, schnürte Wencke den Hals zu. Es ging um ihr eigenes Kind. Aber auch um Mattis. Im Grunde um beide. Und momentan war nicht abzusehen, wie die Sache ausgehen würde.
Nina schaute sie von der Seite an. Sie sah schlecht aus, ihre Haare hingen strähnig in das blasse Gesicht, dessen einziger Farbtupfer die bläulich angelaufenen Lippen waren. Die Wunde an ihrem Hinterkopf hatte zum Glück relativ schnell aufgehört zu bluten, doch sie zitterte am ganzen Leib. Kein Wunder, der Schlafanzug aus dünnem Baumwollstoff war an einigen Stellen von Feuchtigkeit und auch von Blut durchnässt, die Strickjacke nicht weniger. «Ich musste weggehen. Es gab keine andere Möglichkeit für mich, als noch in der Nacht zu verschwinden und Mattis zurückzulassen. Sonst hätte er mich wieder mit nach Hause genommen.» Als sie das Wort
er
aussprach, tickte sie ihrem Mann mit dem Knie in die Seite, sodass der leblose Körper kurz von links nach rechts schaukelte.
«Was ist passiert?», fragte Wencke. Sie hatte sich seitlich auf den kalten, schmutzigen Teppichboden gelegt und krümmte sich zusammen, um die Schmerzen besser auszuhalten.
«Ich hatte Besuch in der Nacht. Stefan stand unter meinem Fenster …»
«Wer ist Stefan?»
«Der Bruder des Mannes, den ich vor einigen Jahren … getötet habe. Du hast mir nicht so recht geglaubt, als ich dir davon erzählte, nicht wahr?»
«Nun …»
«Immer wenn ich schwanger bin, habe ich endlich die Kraft,mir die Kerle vom Leib zu schaffen. Es ist ein richtiger Segen. Jahrelang hatte ich keinen Mumm, mich gegen Hartmut durchzusetzen. Habe immer Entschuldigungen für ihn gefunden. Er kann ja auch nett sein, er ist ja handwerklich so geschickt, er hat unsere Finanzen geregelt, und ich musste ihm dankbar sein … das habe ich zumindest geglaubt und ihm immer wieder seine Übergriffe verziehen. Schließlich hat er mich nie geschlagen …»
«Es gibt auch Schläge anderer Art
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