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Die Waechter der Teufelsbibel - Historischer Roman

Titel: Die Waechter der Teufelsbibel - Historischer Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Duebell
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lautete, ob man es überleben würde, wenn man dort hineinfiel. Heinrich votierte dafür, dass man es nicht überleben würde, aber es gab vorsichtige Opposition. Heinrich sah sich um. Einer der Jungen war der Sohn des Schulmeisters. Er hatte im Frühling einen Jungvogel mit gebrochener Schwinge gefunden und ihn aufgepäppelt. Das Tier hatte nie gelernt, seinen verkrüppelten Flügel zu gebrauchen, aber es pflegte hinter seinem Lebensretter herzuhüpfen und zu tschiepen und schlief nachts auf einer dünnen Holzstange neben dessen Schlafstelle. Der Sohn des Schulmeisters hielt den Vogel in einer Hand und streichelte ihn mitder anderen. Heinrich packte den Federbalg, bevor jemand reagieren konnte. Er erinnerte sich, wie er sagte: »Das werden wir gleich wissen!« Seine Stimme dröhnte tief und verzerrt durch die Jahre an sein inneres Ohr, als dringe sie aus dem Brunnenschacht. Er sah das entsetzte Gesicht des Schulmeistersohns und fühlte das rasende Pochen des kleinen Vogelherzens in der Handfläche. Er erinnerte sich, wie das hektische Tschiepen in dem Maß immer leiser wurde, in dem der Vogel immer tiefer in den Brunnen fiel, und wie er immer noch die heißen Krallen und den Trommelwirbel des Herzens zu spüren glaubte. Er erinnerte sich, wie die anderen Jungen überrascht keuchten und die ersten murmelten: »Oh Mann, Wahnsinn!«, oder: »Ach du Scheiße!«, und wie er den Schulmeistersohn anstarrte und fragte: »Was glaubst du, Eierkopf, ist er tot?«, und der Junge seinen Blick mit schwimmenden Augen erwiderte und sich auf seinem Gesicht die Angst ausbreitete, der Nächste zu sein, der hinuntergeworfen wurde, und wie der Schulmeistersohn schließlich stammelte: »Ich glaube, er ist tot.« Aus dem Brunnen war ganz leise das fragende Tschiepen des kleinen Vogels gekommen, der seinen Lebensretter ein zweites Mal um Hilfe rief. Vögel waren leicht und fielen langsam, aber sie starben schnell. Am nächsten Tag war das Tschiepen nicht mehr zu hören gewesen.
    Später hatte der Schulmeistersohn eine alte Druckmaschine ins Dorf gebracht, repariert und seine Dienste angeboten. Der alte Heinrich, Henyks Vater, hatte ihn gezwungen, seine wirren Hetzpamphlete gegen den Kaiser zu drucken. Der junge Mann hatte es getan, mit genau dem gleichen Gesichtsausdruck wie damals am Brunnenschacht. Der Kaiser hatte die Pamphlete nicht komisch gefunden, und Heinrich senior hatte unter Eid ausgesagt, dass er nichts damit zu tun habe und dass der Schund allein auf dem Mist des Druckers gewachsen sei. Man hatte den Drucker aufgehängt. Da war Henyk schon in Paris gewesen, aber als er es gehört hatte,hatte er sich gefragt, ob wohl der Leichnam des verdammten Narren auch am Galgen noch diesen verwundeten, schicksalsergebenen Gesichtsausdruck gezeigt hatte, bevor die Raben ihn weggepickt hatten.
    Die Vision spielte sich innerhalb eines Herzschlags ab. Beim folgenden Herzschlag war die Frau mit dem Teufelsmal bereits aufgesprungen und hatte sich auf Alexandra gestürzt. Heinrich ging dazwischen.
    »Raus mit euch«, schrie sie. »Verschwindet. Ich bin Kassandra de Lara Hurtado de Mendoza, die Tochter von Maria de Lara Hurtado de Mendoza, der Herrin von Pernstein. Ich bin jetzt die Herrin von Pernstein – und morgen gehört mir die Welt. Verschwindet! Raus mit euch!«
    Sie schlug mit den Fäusten um sich und drängte Alexandra, Filippo und Heinrich zur Tür.
    »Nein!«, schrie Heinrich. »Warten Sie!«
    »Verschwindet! Ihr seid Abfall! Ihr seid Gewürm! Raus mit euch!«
    In ihrem Anfall entwickelte sie erstaunliche Kräfte. Sie schob sie alle drei zur Tür hinaus und schlug sie zu. Heinrich hörte den Riegel schnarren. In seinem Kopf drehte sich ein wildes Kaleidoskop. Er hatte das Mal in ihrem Gesicht gesehen, und es sah scheußlich aus. Aber zugleich jubilierte etwas in seinem Herzen. Er hatte sie immer für perfekt gehalten, und nun stellte sich heraus, dass sie es nicht war. Er hatte sie für einen Kristall gehalten, facettenreich, glasklar und von gnadenloser Härte. Doch sie war letzten Endes wie alle anderen Menschen ein Stück Kohle, das durch Druck und äußere Kräfte geformt worden war, vielleicht mit etwas mehr geschliffenen Kanten als die meisten, aber ebenso undurchsichtig und voller Schatten. Sie war ihm nicht mehr überlegen. Sie hatte es nicht einmal gewagt, ihm ihre wahre Identität zu enthüllen. Er hätte fassungslos, entsetzt, ungläubig, orientierungslos und voller Zorn auf sie sein sollen, doch stattdessenliefen nur

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