Die Wächter Edens
Shane hielt vor einem großen Wohnkomplex und führte sie in eine Art Hinterhof. Dort steuerte er einen der vielen Hauseingänge an. Toni überschlug anhand der Klingeln die Anzahl der Wohnungen und kam auf mehr als dreißig pro Gebäude. Shane drückte einen Klingelknopf. Auf dem dazugehörigen Schild prangten lediglich die Initialen »V. D.«
Nach einem kurzen Moment wurde die Gegensprechanlage betätigt. »Ja?« Die Stimme hatte einen osteuropäischen Akzent.
»D., mach schon auf«, sagte Shane. »Wir stören auch nicht lange.«
Aus dem Lautsprecher drang ein resignierendes Seufzen,dann gab der Summer die Tür frei. Sie fuhren mit dem Fahrstuhl in den siebten Stock, folgten einem langen Gang und standen schließlich vor einer verschlossenen Tür.
Shane klopfte laut dagegen.
»Ist es dunkel?«, fragte die osteuropäische Stimme.
»Scheiße, ja. Du kennst den Hausflur«, entgegnete Shane. Dann öffnete er die Tasche und verteilte daraus kleine Geräte, die wie Stirnlampen aussahen. Erst auf den zweiten Blick stellte Toni fest, dass es sich dabei um Nachtsichtgeräte handelte.
Mehrere Sicherheitsschlösser wurden klackend geöffnet und die Tür schwang zur Hälfte auf.
Shane ging voran, gefolgt von Noriko. Beide trugen bereits die Infrarotsichtgeräte. Toni zögerte noch einen Augenblick und sah ihnen nach. Als er bemerkte, dass es in der Wohnung hinter der Tür stockfinster war, legte er kopfschüttelnd das Nachtsichtgerät an und folgte den beiden.
Zuerst konnte er kaum etwas erkennen, das Bild war undeutlich und dunkel.
»Schalt die Infrarotlampe an der rechten Seite an«, riet ihm Noriko.
Toni suchte kurz nach einem Schalter und atmete erleichtert auf, als das Bild nach dessen Betätigung schlagartig besser wurde. Er befand sich in einem schmalen Flur, der in einen größeren Raum mündete. Als er den Raum betrat, erkannte er, dass es sich um ein geräumiges Wohnzimmer handelte. Noriko und Shane saßen auf einem Sofa gegenüber von einem hageren Mann in einem dicken Polstersessel.
»Setz dich«, wies Shane ihn an und deutete auf einen zweiten Sessel. Toni ging vorsichtig darauf zu – die ungewohnte Sicht machte ihn ganz schwindelig.
»Was wollt ihr?«, fragte der hagere Mann mit hartem Akzent.
Russisch? Slowenisch? , fragte Toni sich, konzentrierte sich dann aber wieder auf den Moment.
Shane deutete auf ihn. »Er ist neu. Vince will, dass wir ihm alles zeigen.«
»Und da kommt ihr zu mir?«
»Lass den Akzent stecken, Vlad«, mischte Noriko sich ein. »Wen willst du damit erschrecken?«
»Imagepflege«, gab Vlad unumwunden zurück – perfekt und akzentfrei. Dann blickte er Toni neugierig an. »Sie wissen nicht, wer ich bin, hab ich recht?«
»Nein, das weiß ich nicht«, gab Toni zu.
Vlad stand kurz auf, um sich tief zu verbeugen. »Gestatten, Graf Vlad Dracul der … ich weiß es ehrlich gesagt nicht mehr … vielleicht der Dritte.«
»Klingt spannend«, rutschte es Toni heraus.
»Ich wurde 1422 in … wie sagt man hier … Schäßburg geboren. Und der Akzent war rumänischen Ursprungs, um Ihre Frage zu beantworten.« Dann ließ er sich geschmeidig in den Sessel zurückgleiten.
Toni hatte aufmerksam zugehört und saß nun mit geschürzten Lippen da. »Guter Witz«, sagte er schließlich. »Nicht schlecht, wirklich. Auch zu erraten, dass ich mich über den Akzent gewundert habe.« Er blickte Shane und Noriko fragend an.
»Du wolltest doch wissen, was wir machen«, sagte Shane.
»Und Vlad hier gehört zu unseren Informanten«, fügte Noriko hinzu.
»Vlad Dracul …«, wiederholte Toni. »Wie in Dracula?«
»Ganz recht«, antwortete Vlad.
»Klar«, schnaubte Toni und verschränkte die Arme vor der Brust.
Shane kicherte kurz. »Zeig’s ihm, Vlad.«
Vlad grinste breit. »Gerne. Aber nur, wenn er nicht auf mich schießt.«
»Wieso sollte ich?«, wunderte sich Toni.
Noriko hingegen nickte. Sie wandte sich zu ihm um, er konnte ihre rötlichen Umrisse vor dem dunklen Hintergrund klar erkennen. »Dir wird jetzt nichts geschehen, bleib ganz ruhig. Aber sieh genau hin, ja?«
»Okay …«, sagte Toni langsam und lehnte sich im Sessel zurück.
Vlad stand indessen auf und postierte sich zwischen seinen Gästen. »Was Sie jetzt sehen, wird Ihr Leben verändern«, versprach er.
Toni beobachtete durch die verzerrte Infrarotsicht, wie Vlad sich anscheinend unter Schmerzen krümmte. Plötzlich erfüllte das Geräusch von zerreißendem Stoff das Wohnzimmer und Vlads Hemd fiel in Fetzen zu Boden.
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