Die Wächter von Jerusalem
Schweinebraten und köstliches weißes Brot, das sich so mit der fetten Bratensoße voll gesogen hatte, dass er es nur noch zu schlucken brauchte. Es wurde gelacht, einer der Knechte sang ein fröhliches Lied, seine Mutter strich ihm liebevoll über das Haar. Niemand war ihm mehr böse, alles war wieder gut. Er war zu Hause …
»He, Rashid!«
Eine Stimme ließ Rashid jäh aufschrecken. Er verlor das Gleichgewicht und konnte sich gerade noch abfangen, bevor er zu Boden stürzte. Hastig sah er sich um, ob jemand seine Ungeschicklichkeit bemerkt hatte, doch zum Glück war niemand zu sehen. Spärlich flackerte das Feuer in der Feuerstelle, über der ein Kessel hing.
Rashid rieb sich die Augen und wischte sich Speichel vom Kinn. Er konnte es kaum fassen, aber er war tatsächlich eingeschlafen . Im Dienst. Im Stehen, gegen die Wand einer der christlichen Wohnungen gelehnt, die sie an diesem Abend noch durchsuchen sollten. Er hatte von seltsamen Dingen geträumt , von erschreckenden Dingen. Von einem Schweinebraten , der so fett war, dass der Saft … Sein Magen begann unwillkürlich zu knurren wie ein wütender Hund. Der Geruch der kochenden Suppe musste ihn bis in seinen Traum verfolgt haben. Rashid schüttelte den Kopf, um die Traumbilder endlich loszuwerden. So etwas war ihm noch nie passiert. Er war noch nie im Dienst eingeschlafen. Gut, er hatte bereits einen Nacht- und einen Tagdienst ohne Pause hinter sich, und der Befehl nach einem geheimnisvollen, aufrührerischen Prediger zu suchen war gekommen, noch bevor er hatte essen können. Natürlich war er müde und hungrig. Trotzdem war es keine Entschuldigung, seine Pflicht zu versäumen und während des Dienstes zu schlafen. Und dann dieser Traum … Diese Leute mit ihrer seltsamen Kleidung, ihrer merkwürdigen Sprache, die er verstanden hatte, obwohl er sie niemals zuvor gehört hatte, den Schweinebraten, den er gegessen hatte. Aber das Schlimmste daran war, dass er die Mahlzeit genossen hatte. Seine Zunge konnte sich sogar jetzt noch an den Geschmack erinnern. Ob das eine Sünde war? Der Genuss von Schweinefleisch war einem Moslem streng verboten. Ob das auch für Träume galt?
»Rashid, schläfst du? Ich brauche hier Hilfe.«
Die Stimme seines Kameraden kam aus dem Nebenraum der kleinen Wohnung. Rashid fuhr sich mit der Hand durchs Haar und setzte sich die hohe Mütze wieder auf den Kopf. Über ihm hörte er die schweren Schritte seiner Kameraden, die die obere Wohnung durchsuchten. Sie waren hier, weil man es ihnen befohlen hatte. Und er sollte nicht schlafen oder über seltsame Träume grübeln, sondern endlich seine Aufgabe erfüllen .
Der Nebenraum war ebenso ärmlich eingerichtet wie der, aus dem Rashid gekommen war, und dabei so klein, dass er um ein Haar mit seinem Kameraden Yussuf zusammengestoßen wäre. Das Zimmer bot gerade eben genügend Platz für die drei niedrigen Bettgestelle, die an den Wänden standen. Kissen und zerwühlte Decken türmten sich zu unordentlichen Haufen darauf, was nicht ganz zu dem sauberen Eindruck passen wollte, den die kleine Wohnung machte. In einer Nische stand eine einfache Öllampe und spendete ein trübes Licht. Der Geruch von billigem Lampenöl stieg Rashid in die Nase. Auf dem Boden lagen anstelle von Teppichen oder Fellen Matten aus geflochtenem Stroh. Über einem der Betten hing ein schlichtes, aus zwei dicken Ästen zusammengebundenes Kreuz. Hier wohnten gewiss keine wohlhabenden Leute. Woran es wohl liegen mochte, dass die meisten der Christen in Jerusalem in eher bescheidenen Verhältnissen lebten? Ob ihre Religion schuld daran war, die – so glaubte Rashid wenigstens mal gehört zu haben – den Christen die Anhäufung von Reichtümern verbot, sodass sogar die Ärmsten unter ihnen bereitwillig ihr letztes Hemd weggaben und das letzte Brot teilten?
»Hast du etwas gefunden, Yussuf?«, fragte er und ließ seinen Blick weiter durch die armselige Kammer wandern. Ein Mädchen kauerte am Fußende eines der Betten. Die Kleine war höchsten zehn Jahre alt und verbarg ihr Gesicht zwischen den Knien. Dabei schaukelte sie vor und zurück wie ein gefangenes , völlig verängstigtes Tier. Plötzlich fühlte sich Rashid schuldig, ohne zu wissen, weshalb, und rasch wandte er den Blick wieder ab.
»Noch nicht«, antwortete Yussuf, während er den Gürtel seiner Hose band. Sein Gesicht war gerötet, und er keuchte, als wäre er schnell gelaufen. »Aber sieh dich lieber noch einmal um. Die da hab ich auch erst an den Haaren
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