Die Waechter von Marstrand
mehrere von seiner Sorte, die ganze Insel war voller Menschen, die wegen des Amnestiegesetzes gekommen waren, nachdem sie Geld gestohlen oder veruntreut oder das eigene Unternehmen in den Ruin getrieben hatten. Anstatt nach einem Konkurs ins Armenhaus zu gehen, packte man heimlich ein paar Habseligkeiten und begab sich nach Marstrandsö.
Kaufmann Widell schüttelte den Kopf, faltete die Hände und stützte die Ellbogen auf die grüne Schreibtischunterlage aus Leder. »Nein, wir wissen nicht, wer es war, aber vor acht Jahren haben wir so etwas schon einmal erlebt. Der damalige Vorfall ging leider nicht so glimpflich aus. Unser Ladengehilfe Mattsson erlag noch am selben Ort seinen schweren Verletzungen.« Er verstummte und sah Agnes nachdenklich an. Sie war kreidebleich geworden.
»Sie hatten Glück.«
Hoffentlich kam Oskar bald zurück. Sie sah nun ein, dass es eine Fehlentscheidung gewesen war, nach Marstrandsö zurückzukehren. Eine Woche würde Oskar brauchen. Mindestens. Würde sie es eine Woche hier aushalten? Je mehr Agnes fieberhaft darüber nachdachte, wo sie sonst Unterschlupf finden könnte, desto größer wurden ihre Kopfschmerzen. In Oskars Haus auf Klöverö? Wo war es am sichersten? Die Einsicht traf sie wie ein Faustschlag in die Magengrube. Es gab keinen sicheren Ort. Sie konnte nirgendwohin.
»Agne?« Kaufmann Widell beugte sich nach vorn und zog seine Brille bis auf die Nasenspitze hinunter.
»Ja?«, erwiderte Agnes leicht verwirrt.
»Geht es Ihnen gut?« Nachdenklich verschränkte Widell die Arme vor der Brust.
»Aber ja.«
»Na gut. Ich verstehe, dass es ein unangenehmes Erlebnis war. Doch wir müssen unbedingt Inventur im Lager machen. Mauritz wollte sich schon lange darum kümmern, aber es ist besser, wenn Sie das in die Hand nehmen.«
Er stand auf und schloss einen fest an der Wand montieren Metallschrank auf, der an Vaters Geldtruhe mit den gusseisernen Blumen auf dem Deckel erinnerte. Reihenweise Schlüssel hingen darin. Kaufmann Widellnahm einen Schlüsselring heraus und schloss den Schrank sorgfältig zu.
»Wie Sie wissen, habe ich einige Lager hier auf dem Hof. Es gibt aber mehrere Vorratsräume überall in der Stadt. Im Falle eines Brands kann ich so nie alle Waren verlieren. Außerdem darf nie nur eine Sorte von Waren in einem Magazin gelagert werden, das Sortiment muss gut verteilt sein.« Er reichte ihr den Schlüsselbund und zog die Schreibtischschublade heraus.
Mit dem Federkiel schrieb er ihr die Nummern der Schlüssel und die entsprechenden Adressen auf. Den Meijerska Keller und das Gårdshus kannte sie, die vier anderen waren ihr neu.
»Nehmen Sie alle Leute mit, die Sie brauchen. Oder ziehen Sie es vor, sich zuerst allein umzusehen?«
»Danke. Ich glaube, ich gehe zuerst allein.«
Er reichte ihr Feder und Papier.
»Haben Sie ein Verzeichnis der Waren und der Stückzahlen, die ich am jeweiligen Platz vorfinden müsste?«, fragte Agnes.
»Selbstverständlich, aber diese Liste können wir ja zum Vergleich heranziehen, wenn Sie wieder da sind.«
Er will mir die Liste nicht zeigen, dachte Agnes, aber es war ihr egal. Mit den Schlüsseln in der Tasche und dem Schreibgerät in der Hand ging sie zum nördlichsten Lager. Das Gårdshus und der Meijerska Keller lagen ja gleich neben dem Kontor. In diesen beiden Magazinen konnte sie ihre Bestandsaufnahme auch noch nach Einbruch der Dunkelheit erledigen. Dann hatte sie es nicht weit bis nach Hause und brauchte sich keine Sorgen wegen der dunklen Gassen zu machen.
Agnes drehte den Schlüssel in dem großen Schloss und drückte die Holztür auf. In dem fensterlosen Kellerraum roch es muffig. Sie hörte das raschelnde Geräusch von Ratten, die sich aus dem Staub machten. Alssie ihre Tranlampe entzündet hatte, sah sie einen nackten Schwanz hinter einem Sack verschwinden. Der Erdboden machte einen trockenen Eindruck. Agnes ließ die Tür offenstehen und begann ganz hinten. Im ersten und zweiten Regal lag Stoff. Agnes zählte sechs Stoffballen und zwei Pakete mit Garnen. Eigentlich wäre es besser gewesen, sie an einem anderen Ort aufzubewahren, damit sie nicht den muffigen Kellergeruch annahmen oder durch die Feuchtigkeit beschädigt wurden. Zumindest schienen sie trocken zu sein. Tauwerk und Teer war ja nicht so empfindlich.
In gehörigem Abstand zu Ratten und Mäusen hing Fleisch und getrockneter Fisch an Eisenhaken. Weitere Lebensmittel lagen auf Regalen, die ebenfalls an der Decke aufgehängt waren. Säcke mit Mehl und
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