Die Wälder am Fluss - Lansdale, J: Wälder am Fluss - The Bottoms
Ich glaube aber kaum, dass sie es mir gesagt hätte, wenn sie nicht halb im Delirium gewesen wäre. Sie ist stolz auf ihn. Weil er was aus sich gemacht hat. Andererseits weiß er nicht, dass er farbig und Miss Maggie seine Mutter ist. Darüber scheint sie nicht besonders glücklich zu sein.«
»Warum sagt sie es ihm nicht?«, fragte ich.
»Sie glaubt, dass es besser so ist, vermute ich. Als Weißer wird er wesentlich anständiger behandelt.«
Jetzt wusste ich, warum Miss Maggie nicht über Red reden wollte. Warum sie plötzlich so merkwürdig geworden war.
»Noch mal: ich erwähne das nur, weil Red Woodrow hier im Bezirk dafür sorgt, dass die Farbigen alles, was ihnen an Ungerechtigkeiten widerfährt, für sich behalten. Er will nicht, dass die Angelegenheiten der Weißen und der Farbigen sich vermischen. Aber er tut das nicht aus bloßem Hass. Vielleicht weiß er nicht, dass er farbig ist, aber trotz allem, was er sagt, hat er auch seine guten Seiten. Er glaubt, wenn die Farbigen mehr auf sich aufmerksam machen, regen sich die Weißen nur auf, und die Farbigen müssen dann drunter leiden. Die Dinge sind nicht immer, wie sie aussehen.«
»Und der Mörder?«
Dr. Tinn zuckte die Achseln. »Ich weiß nicht mehr, als ich Ihnen gesagt habe. Aber wenn es so ist wie bei ein paar anderen Morden, wie zum Beispiel denen von Jack the Ripper in England, dann wird er immer tollkühner werden, und brutaler. Im Moment schnappt er sich Frauen, von denen er denkt, dass sie wertlos sind. Aber dabei wird es nicht bleiben. Irgendwann wird ihm jede Frau recht sein. Er mag es, Spielchen mit den Gesetzeshütern zu treiben – und mit jedem anderen. Er glaubt nicht, dass er gefasst werden wird. Er glaubt nicht, dass er irgendeinen Fehler macht.«
*
Als Grandma und Camilla zum Abschied noch ein bisschen kicherten und sich in die Seiten knufften, ging der Regen richtig los, er donnerte auf das Blechdach, als würde er es mit einer Eisenkette bearbeiten. Die Luft, die der Regen brachte, war schwer, aber kühl.
Vor der geöffneten Ladentür prasselte der Regen und zog kleine Furchen in die matschige Straße. Alles verdunkelte sich.
»Ihr solltet warten, bis der Regen aufhört«, sagte Camilla.
»Ich will aber nicht, dass meine Tochter sich Sorgen um uns macht«, sagte Grandma, »und außerdem kann uns der Regen gar nichts.«
Wir rannten ins Auto, und als wir drin saßen, waren wir komplett durchnässt und fröstelten. Grandma fuhr los. Ich fragte: »Haben wir irgendwas gelernt, Grandma?«
»Keine Ahnung, Harry. In den Detektivromanen befragen die immer weiter alle möglichen Leute, und schließlich sagt dann mal einer was Entscheidendes. Wir haben interessante Sachen gehört, finde ich, aber ich weiß nicht, ob’s uns weiterhilft. Die Zeit wird’s zeigen.«
Als wir gerade aus der Stadt heraus waren, sahen wir jemand durch den Regen stolpern. Er trat in die Mitte der Straße und blieb vor unserem Auto stehen.
Es war ein nackter farbiger Mann. Er hatte seinen Penis mit einer Hand umfasst und schüttelte ihn in Richtung unseres Autos, als könne er damit auf die Motorhaube eindreschen. Sein Mund stand offen, und es sah aus, als gäbe er irgendeinen Ton von sich, aber wegen des laufenden Motors und des Regens konnte man es nicht hören.
Obwohl ich ihn noch nie gesehen hatte, wusste ich sofort, wer es war. Sein Ruf war ihm vorausgeeilt.
»Das ist Root«, sagte ich.
»Was?«, fragte Grandma.
»So heißt er. Er ist harmlos.«
»Meinst du vielleicht Camillas Sohn William?«
»Sie nennen ihn jetzt Root«, sagte ich. »Er ist nicht ganz richtig im Kopf.«
Root stolperte von der Straße, erleichterte sich, warf die Arme hoch und redete in den Himmel. Mit erhobenen Händen ging er in die Wälder und verschwand.
»Du lieber Gott«, sagte Grandma, »er ist tatsächlich … groß.«
19.
In der dunklen, schlingernden Nässe des Regens verlor Grandma die Sicht auf die Straße, und wir stellten fest, dass wir in den Wald fuhren. Die Bäume schienen auf uns zuzustürzen.
Als Grandma ihren Fehler bemerkte, schlingerten wir bereits über Gras und Matsch. Das Auto rutschte, schlitterte in Zeitlupe wie auf fettbeschmiertem Gras, und kam zum Stehen, als sein Hinterteil sanft gegen einen Ahornbaum stieß.
»Verdammter Mist!«, rief Grandma.
Sie versuchte, den Wagen herauszufahren, aber je mehr sie es versuchte, desto tiefer gruben sich die Reifen in den Matsch.
»Wir stecken fest, Harry. Wir müssen zu Fuß weiter.«
»Ich kann gehen,
Weitere Kostenlose Bücher