Die Wälder von Albion
förmlichen Begrüßung ging sie zu ihren Novizinnen zurück, die müde und sichtlich verwirrt um ein Feuer lagerten. Ein junger Priester führte Caillean zu einem kleinen Haus, eher einer Hütte. Er murmelte etwas, das wie eine Entschuldigung klang, und sagte, es sei selbstverständlich kein ihrem Rang angemessener Platz, aber im Augenblick stehe nichts anderes zur Verfügung.
Caillean erwiderte nichts. Da der höchste Druide ihr aufgetragen hatte, auf Avalon zu bleiben, würde sie darauf bestehen, daß man ihnen ein geeignetes Haus zur Verfügung stellte. Die Demütigung sollte sie vermutlich abschrecken oder ihnen sofort deutlich machen, daß die Druiden sie als Frauen entsprechend behandelten und von ihnen Gehorsam erwarteten.
Caillean vergewisserte sich, daß die Novizinnen in dem eilig eingerichteten Schlafsaal gut untergebracht waren, dann ging sie erschöpft zu ihrem Bett und hatte nur noch den Wunsch, auf der Stelle einzuschlafen.
Obwohl Bett und Umgebung fremd waren, schlief sie zu ihrer Überraschung tief und fest und erwachte erst, als sich der Himmel im Osten bereits rot färbte.
Sie stand auf und trat ins Freie. Je heller es wurde, desto mehr konnte sie von ihrer neuen Umgebung sehen. Welches Schicksal hatte sie an diesen von allen Menschen weit entfernten Ort geführt?
Sie stand auf der Spitze eines steilen, hochaufragenden Hügels. Unter ihr erstreckte sich weites, wildes Land, das fast völlig von dichtem Dunst und Nebel umgeben war, der von einer großen Wasserfläche aufstieg.
Am Abend zuvor waren sie so spät am anderen Ufer angelangt, daß Caillean kaum noch etwas gesehen hatte. Die bewaldeten Hänge benachbarter Täler ragten aus dem Nebel auf. Alles war still, aber während die Sonne aufging, hörte Caillean leise Stimmen - jemand schien zu singen oder etwas zu murmeln.
Sie drehte sich um und lauschte. Die Töne kamen aus dem Tal, wo geschützt vor einer kleinen Erhebung ein Gebäude stand. Sie stieg den Hang hinab, um besser zu hören. Der Gesang klang ruhig und getragen. Sie hörte nur tiefe Stimmen von Männern. Nach einer Weile verstand sie im gleichmäßigen Fluß der Töne griechische Worte.
Kyrie eleison, Kriste eleison…
Mit diesem Gebet, das wußte sie, verehrten die Christen ihren Gott. Das mußte also die Gemeinde der Flüchtlinge sein, denen die Priesterschaft der Druiden erlaubt hatte, sich dort niederzulassen. Caillean hatte auch gehört, daß dieser Kult inzwischen nicht mehr verboten war. Inzwischen verbreiteten sich überall im römischen Reich neue, merkwürdige Religionen.
Es dauerte nicht lange, und der Gesang verstummte. Plötzlich entdeckte Caillean ganz in ihrer Nähe einen kleinen vom Alter gebeugten Mann, der sie musterte. Caillean staunte, denn sie hatte sein Kommen nicht bemerkt, und das war ungewöhnlich für eine Priesterin wie sie. Als sie seinen Blick erwiderte, senkte er den Kopf. Es mußte einer der christlichen Priester sein. Sie wußte, daß diese Priester Keuschheit gelobt hatten und Frauen nicht ansehen durften.
Offenbar durfte er jedoch mit ihr sprechen, denn er trat auf sie zu und sagte im Händlerlatein, mit dem man sich im ganzen Reich verständigte: »Ich wünsche dir einen guten Tag, meine Schwester. Darf ich fragen, wie du heißt? Ich weiß, daß du nicht zu unseren Catechumenen gehörst, denn wir haben seit vielen, vielen Jahren keine Frauen bei uns, außer den ehrwürdigen Alten, die vor langer Zeit mit uns gekommen sind. Und du bist eine junge Frau.«
Caillean lächelte bei dem Gedanken, daß jemand sie für jung halten konnte. Aber der Priester hatte schneeweiße Haare und wirkte so leicht wie ein zur Erde gefallenes Blatt. Zumindest dem Alter nach hätte er ihr Großvater sein können. Im Vergleich zu ihm war sie in der Tat eine junge Frau.
»Ich gehöre nicht zu euch«, sagte sie. »Ich bin eine der Priesterinnen, die die Göttin verehren. Man nennt mich Caillean.«
»Ach wirklich?« erwiderte er höflich. »Ich weiß etwas über die Brüder bei den Druiden, und mir ist auch bekannt, daß sie Priesterinnen haben.«
»Die Druiden, die hier leben, haben keine Priesterinnen«, erwiderte Caillean. »Das heißt, bis jetzt nicht. Ich bin von Vernemeton hierher geschickt worden, um ein Haus der Priesterinnen zu gründen. Ich bin heruntergestiegen, um zu sehen, an welchen Ort mich die Göttin geführt hat.«
»Deinen Worten entnehme ich, daß du die Wahrheit liebst, meine Schwester. Dann weißt du auch sicher, daß alle Götter ein Gott
Weitere Kostenlose Bücher