Die Wälder von Albion
Caillean mißtrauisch, daß du solche Erinnerungen in mir weckst?
Sie seufzte und versuchte, die richtigen Worte zu finden.
»Wir waren arm und hatten nie genug zu essen. Jedes Kind war für meine Mutter eine zusätzliche Belastung. Jahre später habe ich auf dem Markt in Deva einmal eine alte Frau gesehen. Sie erinnerte mich an meine Mutter. Natürlich war sie es nicht, aber ich empfand nicht einmal Bedauern, als mir das bewußt wurde. Damals wußte ich mit Sicherheit, daß ich außer Lhiannon und den anderen Priesterinnen keine Familie besaß. Vernemeton war mein Zuhause geworden… «
Es entstand ein langes Schweigen. Eilan versuchte sich vorzustellen, wie es sein mußte, wenn man ohne Familie aufwuchs. Auch Eilans Mutter hatte viele Pflichten und wenig Zeit für ihre Töchter. Aber da gab es Mairi, die trotz ihrer etwas herrischen Art sehr liebevoll zu ihr war. Außerdem war immer Dieda dagewesen, die oft zu Besuch kam, und alle sagten, die beiden seien so unzertrennlich wie Zwillinge. Sie lächelte versonnen, aber plötzlich wurde ihr bewußt, daß sie mit niemandem aus ihrer Familie je so hatte sprechen können wie jetzt mit Caillean.
Es ist, als rede ich mit mir selbst, dachte Caillean wehmütig. Vielleicht ist es aber auch so, als spräche ich mit der Frau, die ich hätte sein sollen - unschuldig und rein.
Caillean erzählte weiter: »Die Dunkelheit und der Feuerschein erinnern mich an meine früheste Kindheit.«
Sie starrte in die bläulichen Flammen und spürte den Sog der Vergangenheit, als falle sie in den bodenlosen Abgrund der Zeit. Die Worte strömten aus ihr heraus, als sei ein Damm gebrochen.
»Von der Hütte weiß ich nur noch, daß sie dunkel und voller Rauch war. Ich bekam immer Halsschmerzen und mußte husten. Deshalb lief ich allein hinaus ans Meer. Ich höre noch die Schreie der Möwen… Sie umkreisten auch den runden Turm. Als ich nach Vernemeton kam, konnte ich fast ein Jahr lang nicht schlafen, weil mir das Klatschen der Wellen und der Schrei der Möwen fehlte. Ich habe das Meer geliebt. Und die Hütte… «, sie zögerte, »dort drängten sich die vielen Kinder. Und das Jüngste hatte meine Mutter an der Brust. Die hungrigen Kinder weinten und schrien tagaus, tagein. Sie hingen an ihrem Rock und auch an meinem, wenn ich ihnen nicht entfliehen konnte. Aber auch wenn man mich schlug, hielt ich es in der Hütte nicht aus. Ich sollte die Gerste mahlen und meiner Mutter helfen, aber ich floh ans Meer. Es überrascht mich, daß ich Säuglinge überhaupt ertragen kann«, fügte sie nachdenklich hinzu, »aber ein Kind wie Mairis Töchterchen mag ich, denn ich weiß, es wird geliebt, umsorgt und von den Eltern wirklich gewollt.«
Caillean stand auf und ging unruhig in dem Raum auf und ab. Schließlich blieb sie stehen und sagte: »An meinen Vater kann ich mich überhaupt nicht erinnern. Ich weiß nur, daß er meiner Mutter nicht half, sondern nur dafür sorgte, daß sie immer ein Kind an der Brust hatte.« Sie zögerte und sank seufzend auf die Bank. »Bestimmt hatte Lhiannon Mitleid mit mir, weil ich halb verhungert war.«
In ihren Worten lag keine Bitterkeit, und Caillean wußte, sie hatte sich schon vor langer Zeit mit all diesen Dingen abgefunden.
»Ich weiß nicht einmal, wie alt ich bin. Erst ungefähr ein Jahr, nachdem ich bei Lhiannon war, zeigte mein Körper die ersten Zeichen weiblicher Reife. Vermutlich war ich damals zwölf. Und wie hätte Lhiannon vermuten können, daß ein so junges Mädchen bereits nicht mehr zur Priesterin geeignet war… «
Sie verstummte und warf Eilan verwirrt einen Blick zu.
Ich bin eine Frau und eine Priesterin! erinnerte sie sich, ich bin fähig, bewaffnete Männer in die Flucht zu schlagen!
Aber der Bann des Feuers und die Kräfte dieser Nacht führten sie immer weiter in die Vergangenheit zurück. Caillean sah sich als verzweifeltes und grausam mißhandeltes Kind. War das die Wahrheit? Oder täuschten sie die flackernden Flammen?
»Kleines, was machst du mit mir?« fragte sie Eilan verwundert. »Du öffnest in mir die geschlossenen Türen meines Lebens. Wer bist du eigentlich?«
Eilan preßte die Lippen zusammen und zwang sich dazu, den Blick der Priesterin zu erwidern. Sie antwortete nicht, aber sie hielt ihre Gedanken zurück, und ihre Frage klang lauter als Worte.
Sag die Wahrheit, sag mir die Wahrheit…
Caillean schien es zu hören, als seien es ihre eigenen Gedanken, und sie wußte, in dieser Stunde konnte sie ihr Geheimnis
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