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Die Waffen nieder!

Die Waffen nieder!

Titel: Die Waffen nieder! Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bertha von Suttner
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Schiff nicht ohne Kapitän.
    Ach, diese Choleraseuche in Grumitz! ... Über zwanzig Jahre sind seither vergangen, aber noch schaudert es mir durch Mark und Bein, wenn ich daran zurückdenke. Tränen, Wimmern, herzzerreißende Sterbeszenen – der Karbolgeruch, das Knochenknarren der Krampfbefallenen, die ekelhaften Symptome, das unaufhörliche Geklingel des Totenglöckleins, die Begräbnisse – nein: Verscharrungen – denn in solchen Fällen gibt es keinerlei Trauerpomp; – die ganze Lebensordnung aufgegeben: keine Mahlzeiten – die Köchin war gestorben – kein Schlafengehen des Nachts – hier und da ein stehend eingenommener Bissen, und in den Morgenstunden ein sitzendes Einnicken. Draußen, wie eine Ironie der gleichgültigen Natur, das herrlichste Sommerwetter, fröhlicher Amselschlag, üppiges Farbenglühen der Blumenbeete ... Im Dorfe ununterbrochenes Sterben – die zurückgebliebenen Preußen alle tot. »Ich bin heute dem Totengräber begegnet,« erzählte Franz, der Kammerdiener, wie er mit einem leeren Wagen vom Friedhof zurückfuhr. »Wieder ein paar hinausgeschafft?« habe ich ihn gefragt. »Ja, wieder sechs oder sieben ... alle Tag so ein halb Dutzend, manchmal auch mehr ... es kommt auch vor, daß einer oder der andere im Wagen drin noch a bissl muckst – aber tut nix – nur 'nein in die Gruben mit die Preußen!«
    Am folgenden Tag starb der Unmensch selber und ein anderer mußte sein Amt – zur Zeit das angestrengteste im Ort – übernehmen. Die Post brachte nur Trübes; von überall her Nachrichten über das Wüten der Seuche und Liebesbriefe – ewig unbeantwortet bleibende Liebesbriefe – von dem nichts ahnenden Prinzen Heinrich. An Konrad hatte ich, um ihn auf das Fürchterliche vorzubereiten, eine Zeile geschickt: »Lilli sehr krank.« Er konnte nicht augenblicklich kommen – der Dienst hielt ihn zurück. Erst am vierten Tage kam der Unselige ins Haus gestürzt:
    »Lilli?« rief er – »ist es wahr?« Unterwegs hatte er das Unglück erfahren.
    Wir bejahten.
    Er blieb unheimlich still und tränenlos. »Ich habe sie viele Jahre geliebt,« sprach er nur leise vor sich hin. Dann laut:
    »Wo liegt sie? – Auf dem Friedhofe? ... Ich will sie besuchen ... lebt wohl ... sie erwartet mich ...«
    »Soll ich mitkommen?« frug ihn jemand.
    »Nein, ich gehe lieber allein.«
    Er ging – und wir sahen ihn nicht wieder. Am Grabe der Braut hat er sich eine Kugel durch den Kopf gejagt.
    So endete Konrad Graf Althaus, Oberleutnant im 4. Husarenregiment, im siebenundzwanzigsten Lebensjahre.
    Zu einer anderen Zeit hätte die Tragik dieses Vorfalls viel erschütternder gewirkt, aber jetzt: wie viele junge Offiziere hatte der Krieg unmittelbar weggerafft – diesen mittelbar. Und in dem Augenblick, als wir von der Tat erfuhren, war in unserer Mitte ein neues Unglück ausgebrochen, das unsere ganze Herzensangst in Anspruch nahm: Otto – meines armen Vaters angebeteter, einziger Sohn – war von dem Würgeengel gepackt.
    Die ganze Nacht und den folgenden Tag dauerte sein Leiden – unter wechselndem Hoffen und Verzagen – um sieben Uhr abends war alles vorbei.
    Mein Vater warf sich auf die Leiche mit einem so markerschütternden Schrei, daß es das ganze Haus durchdröhnte. Wir hatten Mühe, ihn von dem Toten fortzureißen. Ach, und dieser Schmerzensjammer, der jetzt folgte: heulende, brüllende, röchelnde Laute der Verzweiflung waren es, die der alte Mann stunden- und stundenlang ausstieß ... Sein Sohn, sein Stolz, sein Otto, sein alles!
    Auf diese Ausbrüche folgte plötzlich starre, stumme Apathie. Dem Begräbnis seines Lieblings hatte er nicht beiwohnen können. Er lag auf einem Sofa regungslos und – beinahe schien es – bewußtlos. Bresser ordnete an, daß er entkleidet und zu Bett gebracht werde. Nach einer Stunde schien er sich zu beleben. Tante Marie, Friedrich und ich waren an seiner Seite. Er schaute eine Zeitlang mit fragendem Blick herum, dann setzte er sich auf und versuchte zu sprechen. Doch brachte er kein Wort hervor und rang mit schmerzverzerrtem Gesicht nach Atem. Da begann es ihn zu schütteln und zu werfen, als wäre er von jenen schauerlichen Krämpfen befallen, welche die letzten Symptome der Cholera sind, und doch hatten sich vorher keine der anderen Erscheinungen bei ihm gezeigt. Endlich brachte er ein Wort hervor: »Martha.«
    Ich fiel kniend an der Bettseite nieder:
    »Vater, mein teurer, armer Vater! ...«
    Er erhob seine Hand über meinem Scheitel:
    »Dein Wunsch« ...

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