Die Wahrheit dahinter: Kriminalroman (Hanne Wilhelmsen-Reihe) (German Edition)
noch genauer erkundigen?«
Hanne blätterte vorsichtig in einem Buch über den legendären Defraudanten Gjest Baardsen. Es war alt, abgegriffen und mit vielen Merkzetteln versehen, die wie schlaffe gelbe Zungen zwischen den Seiten hervorhingen.
»Sidensvans war bestimmt ein typischer Nerd«, sagte sie und legte das Buch weg. »Trotz des Alters. Diese Computeranlage ist doch der pure Wahnsinn, wenn ich das richtig sehe. Ziemlich toll, daß er das alles noch gelernt hat. Aber er hat offenbar …«
Ihr Blick wanderte über die Bücherregale und die hohen Wissenstürme, die überall vom Boden aufragten.
»… immer noch das geschriebene Wort vorgezogen. Auf Papier, meine ich.«
Hanne zog sich, fast verlegen, die Haare ins Gesicht.
»Als Kind fand ich immer, daß Lexika so gut riechen. Zu Hause hatten wir jede Menge davon. Eins hieß ›Familienbuch‹. Das war so ein komisches mehrbändiges Werk mit Artikeln über alles mögliche. Ich habe schrecklich gern darin geblättert. Eben weil soviel darin stand, aber auch, weil die Bände sich so gut anfühlten. In den Fingern. In den Händen. Und sie rochen, sie dufteten sogar. Das fand ich schön. Das hat mir gefallen.«
Silje blieb ganz still stehen. Ihr fiel gar nicht auf, daß ihr Mund halb offen stand. Diese Situation hatte etwas Besonderes, Silje hatte das Gefühl, auf einer Lichtung im Wald zu stehen und einen scheuen Vogel zu beobachten.
»Ab und zu denke ich daran«, sagte Hanne vage. »Daß ich aus meiner Kindheit nur diese Liebe zu dicken, großen Büchern behalten habe. Nefis lacht darüber. Ich lese immer nur dicke Bücher, die riechen am besten. Merkst du das?«
Sie holte tief Luft und lächelte ein wenig.
»Hier riecht es nach Bibliothek.«
»Das mit deinem Vater tut mir leid, Hanne. Ich hätte das schon früher sagen sollen, aber du bist so … ich habe irgendwie keine Gelegenheit gefunden.«
»Woher weißt du das?«
Jetzt klang Hannes Stimme wieder schroff, scharf.
»Von Billy T. Mein Beileid.«
Hanne griff nach ihrer Brieftasche. Rasch zog sie einen Zeitungsausschnitt heraus, den sie zusammengefaltet hatte. Sie reichte ihn Silje.
»Hier«, sagte sie kurz, es klang wie ein Befehl. »Lies das.«
Es war eine Todesanzeige. »Unser geliebter Wilhelm Wilhelmsen« war verschieden, nach langer Krankheit. Das Kreuz war mit den Buchstaben R.I.P. geschmückt.
»Requiescat in Pace«, sagte Silje verdutzt. »So was schreiben in Norwegen doch nur Katholiken. Bist du Katholikin, Hanne?«
»Meine Eltern sind konvertiert, als ich so um die fünfzehn war. Weil es einen interessanten Eindruck machte. Sie waren beide nicht sonderlich religiös, dazu waren sie viel zu versnobt. Sie hielten sich für durch und durch intellektuell, obwohl ich wirklich finde, daß dermaßen engstirnige Menschen sich nicht so nennen sollten. Sie fanden den Katholizismus nur viel eleganter, weißt du, als das solide Luthertum. Meine Mutter fand das ganze Brimborium schön. Die vielen prachtvollen Bauwerke. Die Liturgie. Sie waren jedes Jahr zweimal in Rom. Wohnten in Luxushotels und besuchten um Mitternacht die Messe, ziemlich angetrunken von dem guten Wein, den sie sich gönnten. Ich habe auch den Verdacht, daß meine Mutter ganz einfach ein wenig auf die Kostüme abfuhr. Auf den Papst und das Purpur der Kardinäle, wenn du verstehst, was ich meine. Mein Vater wollte einfach nur etwas Besonderes sein. Das wollte er schon immer.«
Sie kniff die Augen zusammen und deutete mit Daumen und Zeigefinger einen Zwischenraum von zwei Millimetern an.
»Mit dem Katholizismus haben sie sich nur geschmückt. Scheiß drauf. Lies weiter.«
» Wir sind nur Gast auf Erden
und wandern ohne Ruh
mit mancherlei Beschwerden
der ew’gen Heimat zu …«
» Verschon mich damit«, sagte Hanne rasch. »Das ist bestimmt das Werk meiner Schwester. Die bildet sich wirklich ein, sie könnte dichten. Herrgott …«
Ihre Schulter streifte Siljes, als sie sich vorbeugte, um auf die Anzeige zu deuten.
»Findest du mich da?« fragte sie, ohne eine Antwort zu erwarten. »Siehst du da irgendwo meinen Namen?«
Die Liste der trauernden Hinterbliebenen von Professor Dr. phil. William Wilhelmsen war lang. Sie enthielt Gattin, Sohn und Tochter, Schwiegertochter und Enkelkinder. Drei Schwestern und zwei Schwäger fanden Platz dort, dazu Nichten und Neffen. Sogar ein »Gaute Nesby, treuer Freund« tauchte unter den Trauernden auf. Das viel zu umfangreiche Gedicht und die endlose Liste der Angehörigen machten
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