Die Wahrheit dahinter: Kriminalroman (Hanne Wilhelmsen-Reihe) (German Edition)
einen pompösen Eindruck. Der ganze Text, ja sogar das Format der Anzeige hatte etwas abstoßend Unbescheidenes.
»Nein, du wirst nicht erwähnt«, sagte Silje leise, ohne den Blick von dem Ausschnitt zu heben.
»Nicht gut genug für sie«, sagte Hanne. »War ich noch nie.« Sie lachte verkrampft.
»Ich hab mich dann hingesetzt und meine eigene Anzeige verfaßt. Ungefähr so: ›Mein mich verleugnender Vater, William Wilhelmsen, ist endlich nach zweiundvierzig Jahren beschissener Behandlung seiner jüngsten Tochter abgekratzt. Schickt Blumen zu ihm nach Hause, am besten giftigblaue Nelken. So viele wie möglich.‹ Ich hatte sogar schon Briefmarken auf den Umschlag geklebt. Nefis hat mich glücklicherweise zurückgehalten.«
»So was hätten die doch nie im Leben gedruckt!«
»Nein, aber ich hätte mich blamiert. Und das ist mir erspart geblieben. Statt dessen schlepp ich das hier mit mir rum.«
Sie steckte die Anzeige wieder in ihre Brieftasche.
»Das ist eine Art umgedrehter Mitgliedskarte«, sagte sie. »Ein Beweis dafür, daß die Familie mich nicht will. Und ich will sie auch nicht.«
Ihr Lächeln kam nicht bei ihren Augen an. Sie hielt die Hand auf die Brieftasche mit der Anzeige gepreßt und schaute sich leicht verdutzt um, als wisse sie nicht so recht, warum sie hier über den Tod ihres Vaters gesprochen hatten.
»Hier ist irgendwas«, sagte sie und hob vorsichtig einen der vielen Ordner auf dem Schreibtisch hoch. »Genau, als ob …«
Etwas war da. Sie erstarrte in ihrer Bewegung.
»Sieh dich um«, sagte sie und legte den Ordner wieder hin.
»Das hab ich schon einige Male gemacht«, sagte Silje. »Worauf soll ich denn achten?«
»Sidensvans hatte offenbar ein System«, sagte Hanne leise, wie um ihre eigene Überlegung nicht zu stören. »Eine Säule dort bei der Tür besteht nur aus Zeitschriften und Magazinen. Da hinten findest du medizinische Literatur. Und dort …«
Über ihrer Nasenwurzel zeichnete sich eine Falte ab.
»Aber auch, wenn alles eine Art Ordnung aufweist, so macht doch alles zusammen, dieses ganze Zimmer, eher einen Eindruck von Unordnung. Von Chaos. Nichts liegt ordentlich aufeinander, es gibt keine Symmetrie. Keine klaren Muster, um das mal so zu sagen. Oder nicht?«
»Doch …«
Silje versuchte, sich mit neuem Blick umzusehen.
»Aber hier«, sagte Hanne und hob über dem Schreibtisch gebieterisch die Handfläche, »hier liegen die Unterlagen nebeneinander, parallel und linear. Auffällig.«
Silje sagte nichts dazu. Sie trat näher. Jetzt stand sie mit Hanne Schulter an Schulter da und nickte kurz.
»Du hast recht, natürlich, aber er kann doch … er kann doch mit dem, woran er gerade arbeitete, sehr genau gewesen sein, aber trotzdem nicht überall Ordnung gehalten haben, verstehst du? So daß es sonst ein wenig … durcheinander aussieht.«
»Genau«, sagte Hanne säuerlich. »Du kannst das besser, Silje. Es gibt eine viel näherliegende Erklärung. Diese Dokumente hat kürzlich noch jemand in der Hand gehabt. Und dann wieder zurückgelegt.«
»Er war vor weniger als einem Tag noch hier, Hanne. Natürlich hat sie jemand in der Hand gehabt – Knut Sidensvans.«
Silje musterte Hanne verstohlen. Die Hauptkommissarin wirkte jetzt um einiges älter. Die dunklen Haare wiesen an den Schläfen einen grauen Schimmer auf, wodurch Hanne ein wenig resigniert aussah. Es stand ihr nicht und sie hätte etwas dagegen unternehmen sollen. Die Falte, die sich vom Nasenflügel zum Mundwinkel zog, war scharf ausgeprägt, trotz der neuen Rundheit des Körpers; die Alterszulage sorgte gerade dafür, daß die Hose ein wenig zu eng saß. Als Hanne sich plötzlich zu ihr umdrehte, sah Silje, daß nur ihre Augen sich nicht verändert hatten. Tiefblau, ungewöhnlich groß und mit einem markanten schwarzen Ring um die Iris.
»Das mit den Schlüsseln macht mir Gedanken«, sagte Hanne.
»Na gut«, sagte Silje abwartend.
»Sidensvans’ Leiche wurde in ihrem Mantel gefunden. Er hatte keine Brieftasche bei sich. Und keine Schlüssel.«
»Keine Schlüssel?«
»Ich habe den Bericht gelesen, bevor wir hergefahren sind. Keine Brieftasche, keine Schlüssel. Verdammt komisch.«
»Warum? Er kann sie irgendwo hingelegt …«
»Was hast du gerade alles bei dir, Silje?«
»Was ich bei mir habe?«
»Ja. Was hast du in den Jackentaschen?«
Münzen klirrten, als Silje nachsah.
»Wechselgeld. Brieftasche. Telefon. Eine kleine Taschenlampe. Und … Schlüssel. Und hier. Willst du?«
Sie bot
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