Die Wahrheit dahinter: Kriminalroman (Hanne Wilhelmsen-Reihe) (German Edition)
sagte sie und konzentrierte sich noch immer auf den Versuch festzustellen, wieviel vom Wohnzimmer man von der Wohnungstür aus sehen konnte. »Ich teile gern.«
»Dann tu’s doch endlich!«
Seine Stimme klang jetzt gereizt, und er schaute demonstrativ auf die Uhr.
Sie lächelte strahlend und legte ihm die Hand auf die Schulter.
»Hast du schon gegessen?«
»Nein …«
»Dann komm mit zu mir nach Hause. Und ich werde dir erzählen, was ich gedacht habe. Ich wohne gleich hier um die Ecke. Aber ich warne dich vor … vor der Haushälterin. Sie ist komisch. Laß dir einfach nichts anmerken. Und vor allem: Kein Wort gegen unsere Weihnachtsdekoration!«
»Aber natürlich nicht«, sagte er begeistert und lief hinter ihr her über den schmalen Gehweg vor dem Haus Eckersbergs gate5.
Hermine Stahlbergs Überdosis wurde als Selbstmordversuch gedeutet, was Carl-Christian – nachdem er zwei Stunden gebraucht hatte, um die Schande zu verdauen, die einer solchen Diagnose schließlich anhaftete – als unbedingten Vorteil erkannte. Die Polizei würde seine Schwester nicht vernehmen können. Noch lange nicht. Für ihn war das eine fast schon körperliche Erleichterung, die sich nicht von der wachsenden Sorge darüber verdrängen ließ, daß Hermine offenbar stärkere Sachen zu sich nahm als die, die im staatlichen Spirituosengeschäft zu haben waren. Die dröhnenden Kopfschmerzen, die ihn seit mehr als einem Tag gequält hatten, ließen jetzt langsam nach. Mit noch etwas Glück würde er die Lage unter Kontrolle haben.
Vor seinen Augen drehte sich alles, als er sich von dem Stuhl neben dem Krankenbett erhob, in dem Hermine eben eingeschlafen war. Er mußte sich am Nachttisch festhalten, die Augen schließen und tief durchatmen.
»Alfred«, sagte er überrascht, als er sie wieder öffnete.
»Carl-Christian. Mein Junge!«
Der Onkel umarmte ihn. Carl-Christan stand schlaff und willenlos da und ließ es mit sich geschehen, lange. Der Gestank von Zigarren und der Körpergeruch eines Mannes, der sich nicht mehr sauber hielt, machten seiner Nase zu schaffen.
»Gut, daß du hier bist«, schnaufte der Onkel. »Ich habe schon versucht, dich anzurufen. Immer wieder. Wir haben uns am Freitagabend getroffen, die Tanten und wir Mannsbilder. Und einige Kusinen, übrigens. Benedicte hat vorbeigeschaut und …«
»Ich war nicht so ganz in Form, Onkel Alfred. Ich gehe im Moment nicht ans Telefon.«
»Kann ich verstehen«, flüsterte Alfred und schielte zu seiner schlafenden Nichte hinüber. »Wie geht es ihr denn?«
»Gut. Den Umständen entsprechend.«
»Sollten wir nicht bei mir zu Hause ein Gläschen trinken, mein Junge? Wir haben soviel zu besprechen. Nach diesen ganzen schrecklichen …«
»Ich dachte, du wolltest Hermine besuchen.«
»Aber die schläft doch. Ich kann das arme Kind schließlich nicht wecken!«
Onkel Alfred wirkte leicht beleidigt und hatte seinen Neffen schon am Arm gepackt. Er zog ihn energisch in Richtung Tür.
»Komm jetzt. Laß Hermine schlafen.«
»Nein!«
Carl-Christian riß sich los und fuhr selbst ein bißchen zusammen, als er hörte, wie scharf seine Stimme klang.
»Ich will nicht mit zu dir. Ich habe sehr viel zu erledigen. Ich bin beschäftigt, und trinken will ich auf keinen Fall.«
Alfred musterte ihn. Seine Augen, klein, blaßblau und tiefliegend, funkelten vor Wut, und sein Mund zog sich beleidigt zusammen. Carl-Christian ekelte sich vor diesen fülligen Lippen, sie waren immer blutrot und feucht, fast schon feminin. Er wandte sich zur Seite.
»Ich will nur meine Ruhe haben«, murmelte er.
»Da hast du mein vollstes Verständnis.«
Die Stimme des Onkels klang jetzt kühler, geschäftsmäßiger.
»Ich möchte dich jedoch daran erinnern, daß auch im Hinblick auf die Beerdigung noch allerlei zu erledigen ist. Und nicht zuletzt in bezug auf die Erbauseinandersetzung. In dieser Hinsicht herrscht doch gelinde gesagt eine gewisse Unordnung, nicht wahr?«
Carl-Christian wußte nicht, was er sagen sollte. Die verblüffende Selbstsicherheit, die ihn noch vor einem Moment erfüllt hatte, war verflogen. Er ertappte sich dabei, daß er mit der Schuhspitze über den Boden scharrte, während er dem Onkel nicht in die Augen schauen konnte.
Er hatte Alfreds Stellung in der Familie eigentlich nie verstanden. Alfred war der jüngere und ziemlich unfähige Bruder des Vaters. Er war zwar immer mit irgendeinem geschäftlichen Projekt beschäftigt, darauf wies zumindest sein ewiges Gerede über in
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