Die Wahrheit dahinter: Kriminalroman (Hanne Wilhelmsen-Reihe) (German Edition)
einen solchen Ton erlaubt hatten. Sogar der selbstsichere Kriminalchef Puntvold sah verwirrt aus, er machte mehrere Male den Mund auf und wußte doch nicht, was er sagen sollte.
»Ich wollte nur zeigen«, sagte Hanne endlich und versuchte, nicht zum Abteilungsleiter hinüberzusehen, »wie unsere Deutungen von unseren Erwartungen und Erfahrungen beeinflußt werden. Je reicher und kompletter ein Bild, eine Situation oder ein Fall sind, um so leichter ist es, überzeugende Schlüsse zu ziehen.«
Sie hob ihre Folien hoch und hielt sie vor sich hin.
»Ihr hättet euch irren können. Ob ich an Kahlzellen oder an Wahlzellen gedacht hatte, konntet ihr ja nicht wissen.«
Sogar Håkon wirkte jetzt wacher. Endlich hatte er seine Brille aufgesetzt, und seine Augen wirkten jetzt klarer, konzentrierter.
»Und wenn die Indizienkette in einem Fall noch so lang ist«, sagte Hanne jetzt. »Ganz zu schweigen davon, daß die Motive absolut überzeugend wirken, absolut solide.«
Der Abteilungschef saß da wie erstarrt. Vor Wut gerötete Flecken zeichneten sich auf seinen Wangen ab. Er wußte nicht so recht, wohin mit seinen Händen. Am Ende faltete er sie und preßte sie zusammen. Hanne konnte sehen, daß die Fingerknöchel weiß wurden.
»Wenn die drei toten Stahlbergs A, B und C sind, ist Knut Sidensvans ein X, eine Unbekannte«, sagte Hanne jetzt. »Er paßt nicht ins Bild. Und ich mache mir Sorgen, weil wir ihn wie einen verirrten Buchstaben wegschieben, statt uns zu fragen: Was wollte der Mann dort? Gibt es eine Erklärung für seine Anwesenheit? Sind vielleicht die drei anderen zufällig ins Bild geraten statt umgekehrt? Das klingt natürlich unlogisch. Es ist viel leichter, dort nach Ursachen, Zusammenhang und Sinn zu suchen, wo das naheliegt, nämlich bei einer Familie, die solche Probleme hat wie die Stahlbergs.«
Hanne sprach jetzt für Annmari und nur für sie. Die Polizeijuristin hatte die Arme verschränkt, und nichts war an der neutralen Miene unter ihrem ergrauenden Pony abzulesen. Aber sie hörte genau zu. Schließlich mußte am Ende ja Annmari entscheiden, welche Richtung diese Ermittlungen einschlagen sollten. Nicht Hanne selbst, nicht der Abteilungsleiter, nicht der Kriminalchef und nicht der Polizeichef. Nicht einmal der Staatsanwalt. Annmari Skar war die für diesen Fall zuständige Juristin, und sie hatte vom ersten Moment an alles ungewöhnlich energisch gelenkt. In der letzten Woche schien sie so gut wie nie nach Hause gegangen zu sein, und niemand zweifelte daran, daß Annmari als einzige im Haus einen mehr oder weniger vollständigen Überblick über den riesigen Faktenkomplex besaß, den der Fall Stahlberg allmählich hervorgebracht hatte.
»Worauf willst du eigentlich hinaus, Hanne?«
Annmaris Stimme klang weder feindselig noch skeptisch. Sie runzelte nur die Stirn und schüttelte leicht den Kopf, als sie hinzufügte:
»Sollen wir die Carl-Christian-Spur einfach links liegenlassen?«
»Nein, natürlich nicht. Es kann sogar sein, daß du recht hast und wir ihn festnehmen sollten. Und seine Frau. Ich finde es nur wichtig, daß wir …«
Hanne unterbrach sich. Ihre Wangen glühten.
»Das Motiv braucht nicht dasjenige zu sein, was wir sehen. Und dann … dann kann auch Hermine die vier umgebracht haben. Oder jemand ganz anderes.«
Das letzte flüsterte sie fast. Silje schaute überrascht zu ihr hoch.
Die Tür wurde aufgerissen und traf Hanne am Hinterkopf.
»Tut mir leid«, sagte Billy T. »Geht es?«
Hanne murmelte und nickte und rieb die Beule, die bereits anschwoll.
»Hermine Stahlberg hat im November eine Waffe gekauft«, sagte Billy T. laut und triumphierend.
Seine Jacke war über der Schulter verrutscht und ansonsten falsch geknöpft, so, als habe er sie sich einfach übergeworfen. Rotwangig und atemlos berichtete er:
»Hab mit zwei von meinen alten Singvögeln geredet. Am 10. November hat Hermine in einer Kneipe im Trondheimsvei einen Waffendeal besprochen. Sie brauchte eine unregistrierte Handfeuerwaffe, am liebsten eine Pistole. Sie war …«
»Setz dich erst mal«, sagte Annmari ruhig. »Und dann der Reihe nach.«
»Hier ist nicht genug Platz«, sagte er. »Die Waffe sollte also besorgt und am 16. November übergeben werden, und …«
»Du führst dich hier auf wie ein Student«, sagte Hanne. »Setz dich und reg dich ab.«
»Wohin denn?«
Es gab tatsächlich keine freien Stühle mehr. Hanne bot ihm ihren an und setzte sich selbst auf einen Beistelltisch. Eine
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