Die Wahrheit deiner Berührung (German Edition)
gesagt, dass es besser wäre, wir würden den Hungertod sterben. Aber sie hatte kein Vertrauen in mein Urteil. Sie meinte, meine Ängste wären kindisch.«
Jane sprach mit sanfter Stimme. »Wie kannst du erwarten, dass sie dir vertraut? Oder irgendjemandem sonst? Sie hat ja nicht einmal Zutrauen zu sich selbst.«
Mina wirbelten die Gedanken im Moment so wild und ungestüm durch den Sinn, dass sie sie mit niemandem teilen konnte. Sie hob den Kopf und rang sich ein Lächeln ab. Wenn sie vorgab, vergnügter Stimmung zu sein, fühlte sie sich manches Mal in der Tat ein wenig fröhlicher. Lügen wirkten in dieser Hinsicht wie Medizin. »Meine Liebe, dein Auge muss dir doch schrecklich wehtun. Warum gehst du nicht und ruhst dich für eine Weile aus? Ich kümmere mich solange um unseren Patienten.« Mina war im Moment nicht nach Gesellschaft. Wenn sie schon das Zimmer mit jemandem teilen musste, dann mit jemandem, der still dalag und keinen Ton von sich gab.
»Bist du dir sicher?«, fragte Jane, die jedoch schon aufgestanden war. »Ich habe tatsächlich schreckliche Kopfschmerzen. Ich wünschte, wir wüssten, woran der Mann erkrankt ist.«
»Vielleicht ist es Malaria.«
»Dann wäre es ein höchst seltsamer Fall von Malaria. Er schwitzt überhaupt nicht. Genau genommen erinnert mich sein Zustand an einen Jungen, der früher ein paar Straßen von uns entfernt gewohnt hat. Der Arzt hatte versucht, seinen Starrkrampf mit Belladonna zu behandeln, was den armen Jungen aber letzten Endes ins Grab gebracht hat. Ich würde Mr Monroe eine kleine Dosis Morphin verabreichen, um zu sehen, ob sich sein Zustand dadurch verbessert, aber … warum sollte er Tollkirsche gegessen haben? Er könnte aber auch Epileptiker sein und hat es uns nicht erzählt.« Sie schüttelte den Kopf. »Hat Mr Bonham irgendetwas darüber verlauten lassen, wann der Arzt hier sein wird?«
»Nein, aber ich bin mir sicher, er wird bald kommen.« Mina warf einen flüchtigen Blick zum Bett. »Zumindest hoffe ich das«, fügte sie hinzu. Mr Monroe wirkte ziemlich krank.
Nachdem Jane sich zurückgezogen hatte, ließ Mina sich auf dem Stuhl neben dem Bett nieder. Monroes Gesicht hatte sich hochrot gefärbt. Die Röte war sehr viel stärker als bei einem normalen Fieber und ging mit einem heftigen Hautausschlag einher. Mina streckte die Hand aus, um seine Wange zu berühren, doch im letzten Moment zog sie ihre Finger zurück. Früher am Abend, bei ihrer Begegnung im Flur, hatte er nicht gewollt, dass sie ihm näher kam. Sie hatte es nicht verstanden. Vor nicht einmal einer Woche war er so zuvorkommend und aufmerksam gewesen … und, nicht zu vergessen, sie war Collins’ Stieftochter. Ihre Annäherungsversuche auszuschlagen kam dem Verzicht auf einen Schutzschild inmitten eines Gefechts gleich.
Mina ließ den Blick über Monroe gleiten. Jemand hatte ihm den Frack ausgezogen, und das weiße Batisthemd klebte ihm am Oberkörper. Sollte er tatsächlich eine infektiöse Krankheit haben, hatte sie sich zweifelsohne bei ihm angesteckt, als sie ihn geküsst hatte. Gedankenverloren berührte sie ihre Unterlippe. Er hatte sie dort gebissen, ganz sanft. Und sie hatte es gemocht. Seit drei Wochen mochte sie ihn – seinen Esprit, seine ruhige Art und wie gut er zuhören konnte. Ihre Gefühle gingen so weit, dass sie ein, zwei Mal versucht gewesen war, alle Umsicht in den Wind zu schlagen und offen zu ihm zu sein. Machen Sie keine Geschäfte mit Collins , hatte sie sagen wollen. Sie sind zu gut für ihn .
Die Erinnerung daran entlockte ihr ein Seufzen. Wie naiv sie gewesen war. Denn heute Abend hatte er ihr nicht nur die kalte Schulter, sondern auch sein wahres Gesicht gezeigt. Sie hätte es jetzt bitterlich bereut, hätte sie ihn ins Vertrauen gezogen. Für gewöhnlich war sie klüger. Vielleicht hatte sein gutes Aussehen sie geblendet.
Abermals musterte sie ihn mit einem kritischen Blick. Er war attraktiv, daran gab es nichts zu deuteln. Doch sie hätte die Arroganz in seinen Gesichtszügen früher erkennen müssen. Die gerade Nase schien wie dafür gemacht, an ihr entlang auf Frauen herabzusehen, deren Verhalten nicht seinen Vorstellungen entsprach. Sie können unmöglich wollen, dass andere Sie für trunksüchtig halten . Nun, ihn könnten die Leute für einen anmaßenden, entsetzlich nüchternen Langweiler halten, was sie ihm gegenüber aber mit keinem Wort erwähnt hatte, oder? Seine kantigen Wangenknochen zeugten von Hochmut, und sein eckiges Kinn von Unbeugsamkeit.
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