Die Wahrheit deiner Berührung (German Edition)
bereits mehrfach entschuldigt und hervorgehoben, wie unendlich leid es ihm täte, ihr so viele Unannehmlichkeiten bereiten zu müssen. Am ersten Abend hatte er beteuert, die britischen Behörden täten alles, um ihre Mutter ausfindig zu machen. Am zweiten hatte er ihr versichert, dass er es für eine unglückselige Notwendigkeit hielt, sie vorübergehend ihrer Freiheit zu berauben, dass aber der amerikanische Botschafter über ihre »Inhaftierung« unterrichtet war. »Vergessen Sie bitte nicht«, rief er ihr in der dritten Nacht in Erinnerung, »dass ich kein Fremder für Sie bin. Wir sind uns bereits in Hongkong begegnet, vor vier oder fünf Jahren.«
Seine Worte waren dazu gedacht, sie zu beruhigen. Aber zum ersten Mal seit dem Verschwinden ihrer Mutter drohte Mina vor Panik die Contenance zu verlieren. Wäre Ridland noch in Hongkong, hätte sie ihm nicht einmal ihre Schuhe zum Putzen anvertraut, geschweige denn die Suche nach ihrer Mutter. Der Versuch, ihren Charme spielen zu lassen, schien ihr plötzlich vergeblich zu sein.
Nachdem Ridland gegangen war, wurde ihr bewusst, dass sie die ganze Zeit das Medaillon umklammert gehalten hatte, das sie um den Hals trug. Das Medaillon ihrer Mutter. Sie hatte es am Morgen ihres Verschwindens abgenommen, weil es farblich nicht zu dem neuen rostfarbenen Kleid gepasst hatte.
Voller Ärger über die Situation, in der sie sich befand, ging Mina zum Fenster und riss die Vorhänge auf. Auf dem gegenüberliegenden Dachvorsprung entdeckte sie eine graue Katze, die in der Dachrinne lag. Sie klopfte gegen die Scheibe, doch das Tier zeigte keine Reaktion. Wenig später erhob es sich und verschwand.
Mit finsterem Blick starrte Mina auf die eng gedrängten Dächer. Die Wolken hingen so tief über den Häusern, dass es den Anschein hatte, als mangelte es selbst der Luft am nötigen Freiraum. Es war nicht einmal eine Woche her, dass Mina durch spiegelgetäfelte Ballsäle getanzt war und mit attraktiven Männern geflirtet hatte. Als sie verkündet hatte, sich unsterblich in London verliebt zu haben, hatte ihre Mutter fröhlich und erstaunt gelacht. Ach, Mina! Ich dachte nie, dass ich den Tag noch erleben darf, an dem du etwas Gutes über die Engländer sagst .
Genau genommen war es Mutters Freude, die Mina dazu brachte, sich so wohlwollend über die Stadt zu äußern. Nach ihrem Weggang aus Hongkong hatte es zwei Jahre gedauert, bis ihre Mutter den Mut aufgebracht hatte, sich wieder in der New Yorker Gesellschaft zu zeigen. Und es hatte noch einmal etliche Monate gebraucht, bis sie zu ihrem alten Selbstvertrauen zurückgefunden hatte. Daher grenzte es fast an ein Wunder, wie sie ihrem persönlichen Waterloo nun die Stirn bot, und das mit einer Furchtlosigkeit und Selbstsicherheit, als hätte Collins nie existiert. Du bist wieder du selbst, hatte Mina gedacht. Und das Gefühl des Triumphes, das diese Feststellung in ihr auslöste, wäre es ihr wert gewesen, noch hundertmal diese letzten schrecklichen Tage in Hongkong auszuhalten und ihre Liebe zu London immer wieder aufs Neue zu beteuern.
Jetzt hingegen wirkte der Anblick der Stadt beinahe erdrückend. So viele Menschen befanden sich in diesem dunklen Häusermeer, doch lediglich zweien davon machte es etwas aus, wenn sie diese Zimmer nie wieder verließ. Und sollte ihre Mutter gar nicht mehr in der Stadt sein, bliebe nur noch Tarbury. Für dessen Ergebenheit Mina ihn bezahlte, da machte sie sich nichts vor.
Sie seufzte. Genau genommen spielte es keine Rolle, wo in der Welt sie sich aufhielt – abgesehen von Jane war ihre Mutter alles, was sie hatte. Das waren nun einmal die Folgen ihrer Unabhängigkeit, die ihr bis jetzt noch nie wirklich Probleme bereitet hatten.
Aber sie hatte sie auch noch nie aus der Sicht der Gefangenen gesehen.
Nachdem Mina die Vorhänge zugezogen hatte, ging sie zu ihrem Schreibpult. Ridlands Einlassungen ließen ihr keine andere Wahl. Ihr blieb nichts anderes übrig, als zu nicht ganz lauteren Methoden zu greifen, auch wenn nur der Hauch einer Chance bestand, dass ein Fremder sich daran erinnerte, ihr etwas schuldig zu sein. Ob er vertrauenswürdiger war als Ridland, konnte sie nicht wissen. Doch die Chancen standen nicht schlecht, weshalb sich sogleich zum Federkiel griff.
Liebe Jane,
Deinen Brief habe ich erhalten. Verzeih mir die verspätete Antwort sowie auch die schlechte Nachricht, die ich Dir mitteilen muss. Bitte setz Dich, bevor Du weiterliest.
Ich werde nicht wie geplant nach New York
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