Die Wahrheit deiner Berührung (German Edition)
darüber nachdenken.«
Sanburne hob eine Braue und blickte an ihm vorbei. Erst jetzt drangen andere, vertrautere Geräusche in Phins Bewusstsein ein: das leise Kratzen des Kaminbestecks, das Rascheln von Papier. Sein Kammerdiener und das Zimmermädchen waren soeben Zeugen seines törichten Verhaltens geworden. Es war ein weiterer Beweis dafür, dass der neue Earl wahnsinnig war.
Phin ließ die Hand sinken und wich zurück. Das Gefühl der Verwirrung kam reflexartig, war aber nicht stechend genug, um ihm den Atem zu nehmen. Fünf Monate waren seit seiner Rückkehr vergangen, und so langsam ergab er sich seinem Schicksal. Drogen vermochten den Reflex nicht zu unterdrücken und sein Verstand ihn nicht kontrollieren. Mit Ausnahme von Ridland hatte er keine Feinde in dieser Stadt. Aber alte Angewohnheiten legte man bekanntlich nicht so schnell ab. Und aus eben diesem Grunde schreckte er bei jedem ungewohnten Geräusch aus dem Schlaf auf.
Sanburne musterte ihn stirnrunzelnd. »Kaffee? Und etwas Licht.« Kaum hatte er zu Ende gesprochen, riss er den Vorhang auf.
Das Licht des grauen Londoner Morgens mochte trübe sein, dennoch stach es Phin in die Augen, als er sich auf die Bettkante setzte. Aus den Schornsteinen stieg Rauch auf, und ein einsamer Vogel versuchte vergeblich, gegen die grauen Wolken anzufliegen. Phin hatte die Nacht durchgeschlafen. Immerhin etwas. »Wie spät ist es?«
Sanburne legte den Kopf schief. »Zu spät. Oder zu früh, wer weiß das schon.« Sein lohfarbenes Haar war leicht zerzaust, so als wäre ihm der Hut vom Kopf gerissen worden. Dem Geruch nach zu urteilen, den er verströmte, hatte er bereits ein Frühstück in Form von Alkohol zu sich genommen. Sein zerknitterter Mantel legte jedoch die Vermutung nahe, dass er gar nicht erst ins Bett gegangen war. »Acht Uhr«, sagte er. »So ungefähr zumindest. Wie viele Stunden macht das dann?«
»Fünf Stunden.« Fast.
Sanburne schnalzte leise mit der Zunge. Er wusste das Ausmaß dieser Leistung einfach nicht zu schätzen und empfand das Ganze als töricht. Schlaf so lange oder so kurz, wie du magst , hatte er Phin letzte Woche geraten. Die Welt wird sich ab jetzt ohnehin nach deinem Willen drehen. Der Gerechtigkeit halber musste gesagt sein, dass er recht hatte. Jeder einzelne Brief bewies es. Der Anwalt richtete seine Besuche nach Phins Zeitwünschen, egal ob dieser Sonnenaufgang, Mitternacht oder eine noch spätere Stunde vorschlug. Hinzu kamen die Gutsverwalter, die nörgelnden Pächter, die aufstrebenden jungen Männer auf der Suche nach einem Mentor – Gott stehe ihnen bei –, die allesamt vorgaben, es wäre ihnen eine Ehre, sich in allem ganz nach ihm zu richten.
Nachdem er es jahrelang gewohnt gewesen war, Befehle entgegenzunehmen, hatten diese Beteuerungen Phin anfangs eher verstört als ihm geschmeichelt. Die vielen Briefe hatte er auch nur behalten, um sie noch einmal zu lesen und sich zu vergewissern, dass er sich das Ganze nicht einbildete. Auf die Probe gestellt hatte er die Bittsteller jedoch noch nie. Immerhin antwortete er zeitnah und beraumte die Unterredungen zu Zeiten an, in denen normale Geschäftsmänner ihrer Tätigkeit nachgingen.
Er wollte noch nicht einmal in Abrede stellen, dass ihm womöglich in seinem Leben eine Menge entging. Sanburne schien jedenfalls genau das zu denken, und seinen Blicken nach zu urteilen, die er ihm in letzter Zeit immer wieder mal zuwarf, machte er sich große Sorgen um seinen Freund. Doch so langsam ging Phin das auf die Nerven. »Weshalb bist du hier?«, fragte er knapp.
»Du brauchst dringend eine Ruhepause.«
Dabei kam doch der Rest seines Lebens jetzt einer immerwährenden Ruhepause gleich. »Wenn du eine Idee hast, nur zu.«
Sanburne lachte. »Jetzt sag nicht, du hast es vergessen, alter Knabe. Die ganze Stadt ist bereits auf dem Weg nach Epsom Downs. Ich konnte unmöglich zulassen, dass du das Rennen verschläfst. Die Kutsche steht abfahrbereit vor dem Haus. Komm schon, setz ein fröhliches Gesicht auf und lass dich ankleiden«, fügte er hinzu und wies mit einer knappen Kinnbewegung über Phins Schulter hinweg.
Fretgoose, der beleibte, grauhaarige Kammerdiener – sein Kammerdiener (»Wenn Sie es wünschen, Sir«), den er von seinem Cousin geerbt hatte –, trat unterwürfig vor, um Phin den Morgenmantel zu reichen. Phin erhob sich und streckte die Arme aus, wenngleich er sich wie immer ziemlich lächerlich vorkam. Wie eine Puppe, die angezogen wird. »Wer ist denn mit von der
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