Die Wahrheit der letzten Stunde
ganz anders. Ich denke, Gott hat ein kleines jüdisches Mädchen ausgewählt und Stigmata ins Spiel gebracht, um möglichst viele Menschen verschiedener Glaubensrichtungen anzusprechen. Christen, Juden … wir alle blicken jetzt auf sie.«
»Aber warum jetzt? Warum Jahrtausende warten und sich dann so plötzlich manifestieren? Hat das etwas mit der Jahrtausendwende zu tun?«
»Absolut«, bekräftigt der Priester. »Seit Jahren gilt die Jahrtausendwende als Datum für die Apokalypse, und die Menschen sehnen sich nach Erlösung.«
Der Rabbi lacht. »Vergessen Sie die Jahrtausendwende. Dem jüdischen Kalender nach sind es noch dreiundvierzig Jahre, bis wir überhaupt erst die Jahrhundertwende erreichen.«
»Ein weiterer Anrufer«, kündigt King an und drückt wieder einen Knopf. »Sie ist Handlangerin des Teufels. Sie …«
»Danke«, sagt King und unterbricht das Gespräch. »Hallo, Sie sind auf Sendung.«
»Ich sage, bravo Faith White. Auch wenn sie sich das alles nur ausgedacht haben sollte, war es höchste Zeit, dass jemand einmal den Gedanken aufwirft, dass Gott eine Frau sein könnte.«
»Meine Herren? Ist Gott männlich?«
»Nein«, antworten Rabbi und Priester wie aus einem Munde.
»Gott ist keines von beidem und beides zusammen«, erklärt Mulrooney. »Aber eine Vision ist so viel mehr als nur physische Merkmale. Da sind die konkreten, überprüfbaren Beweise, abgesehen von der Vision, die Frömmigkeit und christliche Tugend…«
»Das hat mich schon immer gestört«, brummt Rabbi Solomon. »Die Behauptung, nur Christen wären tugendhaft.«
»Das wollte ich damit nicht…«
»Wissen Sie, was Ihr Problem ist?«, greift der Rabbi seinen Kontrahenten an. »Sie behaupten, aufgeschlossen zu sein, aber das gilt nur, solange Ihr Visionär etwas sieht, das Ihnen in den Kram passt. Sie hocken in Ihrer Fakultät und haben das Mädchen noch nicht einmal kennen gelernt, aber sie ist ein Zylinder in einem quadratischen Loch, und darum diskreditieren Sie sie mit Ihrer Theologie.«
»Moment mal«, erwidert Vater Mulrooney zornig. »Ich besitze wenigstens eine Theologie. Was für eine radikale Hippiebewegung bezeichnet sich schon als jüdisch, verwendet aber Gesänge und buddhistische und indianische Elemente?«
»In der jüdischen Theologie ist Raum für einen weiblichen Gott.«
Der Priester schüttelt den Kopf. »Verbessern Sie mich, wenn ich irre, aber richten sich die hebräischen Gebete nicht an >adonai eloheinu< - Gott, unseren Herrn?«
»Das ist richtig«, bestätigt Rabbi Solomon. »Aber es gibt viele hebräische Namen für Gott. Beispielsweise Haschern, was bedeutet >der Name< - das klingt doch eher geschlechtsneutral, oder? Und dann ist da noch Gottes Präsenz, Schekhinah, die gemeinhin als weiblicher Begriff verstanden wird. Ich persönlich gebe dem Wort Schaddai als Bezeichnung für Gott den Vorzug. Es wird immer im Maskulinum konjugiert, und jahrelang haben Rabbis das Wort mit >der Hügel Gott< oder >der Berg Gott< übersetzt. Aber Schaddai weist eine verblüffende Ähnlichkeit auf mit Schaddaim… und das bedeutet >Brüste<.«
»Das ist doch absurde Haarspalterei«, schnaubt Vater Mulrooney verächtlich. »Und aus Höhle ohne >h< und mit zwei >1< wird Hölle.«
»Sie…« Rabbi Solomon will aufspringen, aber Larry King legt ihm begütigend eine Hand auf den Arm.
»Faith White, Heilerin oder Betrügerin?«, nennt King noch einmal den Titel der laufenden Sendung. »Wir sind gleich wieder bei Ihnen.« Als das Lämpchen an der Kamera ausgeht, hat Vater Mulrooneys Gesicht eine ungesunde scharlachrote Farbe angenommen, und Rabbi Solomons Augen sprühen vor Zorn. »Hören Sie, Sie beide liefern mir wirklich großartiges Material, aber versuchen Sie doch bitte, sich nicht gegenseitig umzubringen, ja? Wir haben noch zwanzig Minuten Sendung vor uns.«
Lake Perry, Kansas - 25. Oktober 1999
Ein Vollmond über Kansas ist ein bemerkenswerter Anblick, leuchtend und so prall, als würde er jeden Moment platzen bei seiner langsamen Wanderung über die Ebenen. Es ist die Art von Mond, der wilde Tiere aus ihrem Versteck hervorlockt, Katzen dazu verführt, auf Zaunpfosten herumzuturnen, und Schleiereulen unheimliche Rufe ausstoßen lässt. Er verändert einen, sei es auch nur für die Zeit, die man ihn anschaut. Man hat das Gefühl, das Blut würde träger durch die Adern fließen, und einem wird ganz schwindlig von einem Lied, gespielt auf kahlen Ästen und Schilfrohr. Es ist ein Mond, der Ian und
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