Die Wahrheit der letzten Stunde
Mariah am Montagabend, nur Stunden vor seinem Besuch bei Michael, seinen dicken Bauch vorhält.
Sie haben es sich zur Gewohnheit gemacht, sich einen Moment zu gönnen, die Anspannung des Tages abzuschütteln, bevor Mariah sich schlafen legt und Ian sich wieder an die Arbeit setzt. Auf der Veranda sprechen sie von unverfänglichen Themen: Gänsen, die sie nach Süden haben fliegen sehen, der unglaublichen Anzahl der Sterne, dem Geruch des Winters in der Luft. Sie wickeln sich in karierte Wolldecken und sitzen nebeneinander, bis ein rosiger Hauch ihre Wangen überzieht, ihre Nasen laufen und sie vor der Kälte flüchten. An diesem Abend ist Ian ungewöhnlich still. Er weiß, was er zu tun hat - eigentlich läuft es darauf hinaus, dass er die überzeugendste schauspielerische Leistung seines Lebens bringen muss —, aber er zögert es hinaus. Jedes Mal, wenn er tief Luft holt, um davon anzufangen, wirft er einen Blick auf Mariah, und ihm wird wieder bewusst, dass er nicht den Anfang vom Ende einläuten will.
Mariah gähnt. »Ich sollte wohl besser reingehen.« Sie blickt um sich, um zu sehen, ob Faith vielleicht etwas draußen hat liegen lassen, und greift dann nach einem Paar Schuhe. »Wie kann ein Mensch nur so unordentlich sein«, murmelt sie und hebt noch eine Bibel mit abgenutztem Ledereinband auf. In der Annahme, Faith habe sie in der Hütte gefunden, versucht sie, das Buch unter ihrer Decke verschwinden zu lassen, ohne dass Ian etwas davon mitbekommt.
»Das ist meine.«
»Die Bibel?«
Er zuckt die Achseln. »Ich schöpfe daraus Ansatzpunkte für meine Reden. Ein großartiger Lesestoff. Natürlich betrachte ich ihn als Fiktion und nicht als Realität.« Er schließt die Augen und legt den Kopf in den Nacken. »O verdammt. Ich lüge Sie an, Mariah.«
Er kann fühlen, wie sie sich anspannt und im Geiste einen Schritt zurückweicht. »Wie bitte?«
»Ich habe Sie belogen. Ich habe heute Abend in der Bibel gelesen, weil… weil ich Lust hatte. Und das war nicht meine einzige Lüge. Ich habe Sie in dem Glauben gelassen, ich säße in diesem Flugzeug, weil ich Ihnen zum Flughafen gefolgt wäre, aber tatsächlich hatte ich den Flug schon gebucht, lange bevor Sie überhaupt beschlossen haben, wegzulaufen. Ich komme nämlich regelmäßig hierher, um jemanden zu besuchen.«
»Jemanden.« Ihr Tonfall ist kühl, und auch wenn Ian nichts anderes erwartet hat, versetzt es ihm einen Stich.
Sie denkt, er spräche von einem Producer, einem Dokumentarfilmer, irgendjemandem aus dem Geschäft, der Faith an den Pranger stellen könnte. »Es handelt sich um einen autistischen Verwandten. Michael lebt hier in einem Heim, weil er in der normalen Welt nicht allein zurechtkommt. Diese Sache ist sehr privat, und darum weiß auch niemand davon - weder mein Producer noch das Team. Als ich Sie und Faith im Flugzeug gesehen habe, war mir klar, dass Sie annehmen würden, ich würde Sie verfolgen. Das war zwar nicht der Fall, aber ich wollte nicht, dass Sie wissen, was ich in Kansas City wollte. Also tat ich das, was Sie ohnehin annahmen: Ich folgte Ihnen.«
Er fährt sich mit beiden Händen durch das Haar. »Allerdings habe ich nicht über die möglichen Konsequenzen nachgedacht.« Ian wendet den Blick von ihr ab. »Faith - ich habe sie jetzt mehrere Tage lang um mich gehabt. Und je mehr Zeit ich mit ihr verbringe, desto mehr frage ich mich, ob an ihrer Geschichte nicht doch etwas dran ist, ob ich mich nicht geirrt habe.« Er schluckt hart. »Tagsüber fahre ich zu Michael, und wenn ich dann zurückkomme, Faith sehe und … Gott, ich stelle mir die beiden vor, und meine Gedanken wirbeln wild durcheinander: Was, wenn? Was, wenn sie die Wahrheit sagt? Was, wenn sie Michael heilen könnte? Und dann, ebenso schnell, schäme ich mich, dass ich - der große Ungläubige! - so etwas überhaupt in Betracht gezogen habe.« Ian wendet sich wieder Mariah zu, ein verräterisches Glitzern in den Augen und mit brüchiger Stimme. »Ist sie dazu in der Lage? Kann sie Wunder wirken?«
Er kann in Mariahs Augen lesen wie in einem Buch; sie sieht in ihm einen Menschen, der leidet. Sie greift nach seiner Hand. »Natürlich werden wir Ihren Verwandten besuchen gehen«, verspricht sie. »Und wenn Faith etwas für ihn tun kann, wird sie das auch tun. Und wenn nicht, dann ist es eben so, wie Sie die ganze Zeit gesagt haben.«
Wortlos hebt Ian ihre Hand an die Lippen, eine Geste grenzenloser Dankbarkeit, auch wenn das winzige Mikrophon und der Recorder unter
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