Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Wahrheit der letzten Stunde

Die Wahrheit der letzten Stunde

Titel: Die Wahrheit der letzten Stunde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jodi Picoult
Vom Netzwerk:
nicht wärmen können. Im Rückspiegel kann ich Ians Mietwagen sehen, einen schwarzen Taurus. Er folgt mir. Wir sind überein gekommen, dass es besser wäre, wenn wir separat eintreffen. Wie sollten wir sonst erklären, warum wir zusammen vorfahren?
    »Lügen«, brumme ich. »Immer mehr Lügen.«
    »Ma?« Faith’ Stimme klingt ganz tief und verschlafen.
    »Hast du gut geschlafen?« Unsere Blicke begegnen sich im Rückspiegel, und ich lächle. »Wir müssen über etwas sprechen. Wenn wir zu Hause sind, wirst du bei Oma bleiben müssen, weil ich meine Anwältin aufsuchen muss.«
    Faith setzt sich auf. »Hat es wieder mit Papa zu tun?«
    »In gewisser Weise. Er möchte, dass du in Zukunft bei ihm lebst, und ich will, dass du bei mir bleibst. Also wird ein netter Richter entscheiden, wo du leben sollst.«
    »Wie kommt es eigentlich, dass niemand mich fragt, was ich möchte?«
    »Ich frage dich«, entgegne ich.
    Aber jetzt, da sie entscheiden soll, zögert Faith. »Muss ich mich für immer für nur einen von euch entscheiden?«
    »Ich hoffe nicht, Faith.« Zögernd überlege ich, wie ich den folgenden Satz am besten formulieren soll. »Da viele Leute uns beobachten werden, bis der Richter zu einem Entschluss kommt, wäre es vielleicht besser, wenn du… Gott… sagen würdest, dass du eine Weile ein Geheimnis aus ihren Besuchen machen musst.«
    »Wie in der Hütte.«
    Nicht ganz. Faith war in Kansas nicht sehr gut darin gewesen, sich zu verstellen. »Gott sagt, es geht niemanden etwas an.« Aber das stimmt nicht. Es ist ein Riesengeschäft, bei dem es um Spenden, Erlösung und sogar Atheismus geht. »Tu mir bitte den Gefallen«, sage ich müde. »Bitte.«
    Sie ist eine Weile still. Dann fühle ich, wie ihre Hand sich durch den schmalen Spalt unter der Kopfstütze hindurchschiebt, durch mein Haar, um mir leicht die Nackenmuskeln zu massieren.
     
    Ian erreicht das Haus eine halbe Stunde vor Mariah, nachdem er durchgefahren ist, während sie an einem McDonald’s Halt gemacht hat, um mit Faith eine Kleinigkeit zu essen. Er biegt in die Straße zum White-Haus ein und staunt darüber, wie groß die Menschenmenge dort geworden ist. Sämtliche Fernsehstationen sind mit Ü-Wagen vertreten, es gibt eine Gruppe mit einer Fahne, und die Sekte hält immer noch die Stellung am Briefkasten. Hinzu kommt ein wahres Meer von eifrigen Gesichtern, die da sind, um geheilt, berührt oder gesegnet zu werden.
    Ian mischt sich unauffällig unter seine eigenen Leute, was nur deshalb möglich ist, weil überall ein solches Gedränge herrscht. James ist nirgends zu sehen. Ians Assistenten finden sich ein, aber er verscheucht sie, als er den Winnebago erreicht. »Nicht jetzt. Lasst mich erst einmal Luft holen.«
    Aber drinnen geht er nur rastlos auf und ab. Er wartet, bis sich draußen eine Erregung breit macht, die zu ihm dringt wie ein Luftzug. Er verlässt den Winnebago und beobachtet aus der Ferne, wie Faith und Mariah aus dem Wagen steigen.
    Er kann ihr trotz der Entfernung ansehen, wie erschüttert sie ist. Sie bringt Faith eilig ins Haus, wobei sie sie so gut es geht vor neugierigen Blicken schützt, aber das Geschrei der Menge, die eine Woche auf das Kind gewartet hat, ist ohrenbetäubend. Mariah übergibt ihre Tochter Millie, dann begleitet sie eine Frau, die er noch nie gesehen hat - die Anwältin? -, über die Auffahrt zu einem Jeep.
    Ian bahnt sich einen Weg bis ganz nach vorn. Die Menschen berühren Kotflügel und Türen des Jeeps, als der Wagen am Ende der Auffahrt zum Stehen kommt. Die Polizeibeamten drängen die Leute zurück, und der Wagen schiebt sich vorwärts. Ian starrt auf das Beifahrerfenster und versucht, Mariah kraft seines Willens zu veranlassen, aufzusehen. Als der Jeep die Auffahrt verlässt, geht sein Wunsch in Erfüllung. Er schenkt ihr ein aufmunterndes Lächeln, und sie hält den Blick auf ihn gerichtet, als der Wagen weiterfährt, dreht sich in ihrem Sitz um und legt die Finger an die Glasscheibe, als würde sie ihn berühren.
     
    ZWEITES BUCH
     
    Das Neue Testament
     
    KAPITEL 10
     
    Wenn die Liebe kränkelt und verfällt, wende ich ein gewisses Zeremoniell an.
    Im schlichten Glauben gibt es keine Tricks.
    William Shakespeare Julius Cäsar
     
    27. Oktober 1999
     
    WIE erstarrt mit Joan mitten im Richterzimmer; sie hat panische Angst, eine falsche Bewegung zu machen. Ihr ist unangenehm bewusst, dass sie Leggings und ein weites Sweatshirt trägt, während Joan in einem olivfarbenen Kostüm erschienen ist und

Weitere Kostenlose Bücher