Die Wahrheit der letzten Stunde
Attribute auf Gott projiziert, die es sich von einem Elternteil wünscht - bedingungslose Liebe, Schutz, was auch immer.«
Er reibt an einem kleinen Kreis Kondenswasser auf dem Tisch. »Betrachten wir jetzt Faith White, deren Mutter - nach eigener Aussage - nicht immer die beste aller Mütter war. Was geschieht mit einem Kind, das sich immer die Aufmerksamkeit seiner Mutter gewünscht hat? Zumal, als die dramatische Trennung der Eltern hinzukommt und es nur noch die Mutter als Bezugsperson hat? In welcher Gestalt wird es sich Gott wohl am ehesten vorstellen?«
»Als eine liebevolle Mutter«, murmelt Vater MacReady, greift nach dem Chianti und nimmt einen kräftigen Schluck aus der Flasche. Hinterher wischt er sich mit dem Handrücken den Mund ab. »Ich dachte, Sie hätten Ihre Empfehlung an den Bischof bereits verfasst.«
»Das habe ich auch.« Rampini verzieht schmerzlich das Gesicht. »Da ist nur … eine Kleinigkeit.« Er lehnt sich in seinem Stuhl zurück und lässt den Blick über die Wände der Pfarrhausküche gleiten, die etwas frische Farbe hätten vertragen können. »Wenn ich nur logisch nachvollziehen könnte, warum sie eine Frau sieht. Warum. Dann würde das alles ändern, nicht wahr? Ich meine, der Mist, den ich Ihnen gerade erzählt habe … das ist Psychologie. Das hat nichts mit Theologie zu tun. Ich lese es zwar, kann es aber im Herzen nicht glauben.«
»Vielleicht ist das ja auch gar nicht das, was sie tatsächlich sieht«, sagt Vater MacReady bedächtig. »Vielleicht interpretiert sie es lediglich so.«
»Inwieweit unterscheidet sich das denn von dem, was ich gerade gesagt habe?«
»O doch, es ist etwas anderes. Haben Sie sich je solche Darstellungen angesehen, die aus einer Perspektive aussehen wie eine Flasche und aus einer anderen wie zwei Menschen, die sich küssen?«
Vater Rampini nimmt ihm die Weinflasche weg. »Ich glaube, es ist höchste Zeit, dass Sie damit aufhören.«
»Ich bin absolut nüchtern und klar. Sie wissen schon … wie nennt man die Dinger noch gleich… optische Täuschungen! Es könnte doch sein, dass lediglich Faith’ Perspektive die falsche ist, nicht aber ihre Vision an sich.« Angesichts von Vater Rampinis ausdruckslosem Gesicht fährt MacReady fort. »Mal angenommen, Sie wären ein kleines Mädchen, das nicht das Geringste von Religion weiß. Von keiner Religion. Sie leben in den neunziger Jahren in einer eher konservativen Stadt, in der die Leute alle ziemlich gleich aussehen. Und dann eines Tages taucht jemand ganz plötzlich aus dem Nichts auf. Die Person ist in etwa so groß wie Ihre Mutter, hat ähnliches langes braunes Haar und trägt ein Kleid und Sandalen wie sie. Was würden Sie wohl glauben, was Sie sehen?«
»Eine Frau«, antwortet Vater Rampini leise. »Aber tatsächlich ist es Christus, vielleicht noch sehr jung, ohne Bart — und in traditioneller Aufmachung.«
»Woher sollte ein kleines Mädchen aus New Canaan wissen, was Männer vor zweitausend Jahren in Galiläa getragen haben.« Vater MacReady grinst so breit, dass es beinahe wehtut. Er fühlt, wie er auf die Füße gezogen wird, als Vater Rampini ihn packt und stürmisch an seine Brust drückt.
»Wissen Sie, was das heißt? Ist Ihnen klar, was das bedeutet?«
»Das Sie noch ein weiteres Ferngespräch von meinem Anschluss aus führen werden«, entgegnet Vater MacReady lachend. »Nur zu. Rufen Sie auf meine Kosten Bischof Andrews an.«
Er folgt Rampini ins Gästezimmer, wo der Priester auf dem überfüllten Schreibtisch nach der Manchester Telefonnummer sucht. »Natürlich«, brummt Rampini vor sich hin, »wird die Bischofskonferenz einwenden, dass Christus sich recht bald als der Herr zu erkennen geben würde, Kleid oder nicht… Aber wenigstens wird es eine solche Konferenz geben. Ah, da ist sie ja. Würden Sie mir das Telefon rüberreichen?«
Aber Vater MacReady hat ihn gar nicht gehört. Er hält das Handy in der einen Hand und Vater Rampinis Heiligen-Kalender in der anderen. Er hat die heutige Seite abgerissen und starrt auf die morgige. Wortlos reicht er den Kalender seinem Gast.
Die Heilige Elisabeth von Schönau. Gestorben 1146. Der heiligen Elisabeth ist eine junge Frau erschienen, die in der Sonne saß. Da fragte Elisabeth einen Engel, was das zu bedeuten hatte. Der Engel antwortete: »Diese junge Frau ist die geheiligte menschliche Natur unseres Herrn Jesus Christus.«
Vater Rampini wählt die Nummer. »Ich weiß«, sagt er nach einer Weile. »Wecken Sie
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