Die Wahrheit der letzten Stunde
Kleinigkeiten anzunehmen. Er beugt sich über die Schnürsenkel ihrer Turnschuhe und erkennt auf die kurze Entfernung, dass das Mädchen jünger ist als Faith, kräftiger, eindeutig anders.
Das Mädchen steigt die kurze Leiter am einen Ende des Hangelgerüstes hinauf.
»Du musst mir zusehen«, ruft sie mit unverhohlenem Stolz. »Diesmal mache ich es richtig.«
Colin ertappt sich dabei, wie er die Luft anhält, als das Kind sich erst am linken und dann am rechten Arm vorwärts schwingt, schwungvoll nach den Riesenstreben greift und entschlossen mit den kleinen Fingern zupackt, dass die Knöchel weiß hervortreten - trotz der Anstrengung, obwohl es wehtun muss. Er sieht ihr weiter zu, bis sie sicher auf der gegenüberliegenden Seite anlangt.
Dafür, dass sie erst sieben ist, weiß sie eine ganze Menge. Sie weiß, dass die Raupe des Chrysippusfalters zwischen den Blättern der Seidenpflanze lebt, dass Strumpfhosen niemals so eng sitzen wie Leggings und dass »mal sehen« immer »nein« heißt. Sie hat genug von der Welt gelernt, um zu wissen, dass sie den Erwachsenen gehört und die einzige Möglichkeit, ihre eigenen Spuren zu hinterlassen, darin besteht, erst dann zu reden, wenn sie ausgesprochen haben, und sich möglichst ähnlich zu verhalten, damit sie aufmerken und einen überhaupt wahrnehmen. Sie weiß, dass in der Sekunde, da sie einschläft, der Teddy seine zugenähten Augen öffnet. Sie weiß, dass die Wahrheit einen stechenden Schmerz hinter den Augen verursachen kann und dass Liebe sich manchmal anfühlt, als würde einem von einer großen Hand die Kehle zugeschnürt.
Und obwohl alle versuchen, es vor ihr zu verheimlichen, weiß sie, dass alle noch darüber reden. Faith ist seit drei Tagen wieder zu Hause, obwohl es noch wehtut, ein Oberteil zu tragen. Jedes Mal, wenn sie etwas überzieht, fühlt sie, wie die Schnitte wieder aufplatzen und bluten. Sie hat Angst, im Winter entweder zu erfrieren oder auszubluten.
Tagsüber kommt ihre Großmutter rüber und spielt mit ihr. Ihr ist es egal, dass Faith dabei nur Shorts trägt. Ihre Mutter sitzt auf der Couch und starrt auf ihren Rücken, wenn sie glaubt, dass es niemand merkt, als könnte Faith ihre bohrenden Blicke nicht fühlen. Wenn Oma nach dem Abendessen geht, gibt es manchmal Gespräche mit dicken, fetten Lücken, sodass es scheint, als würden Stunden vergehen zwischen den einzelnen Sätzen, die Faith und ihre Mutter wechseln.
An diesem Abend stochert Faith in den Erbsen auf ihrem Teller, als es an der Tür klingelt. Oma zieht fragend die Brauen hoch, und ihre Mutter zuckt die Achseln. So geht das zwischen ihnen; sie können sich ohne Worte verständigen, weil sie sich so gut kennen. Zwischen Faith und ihrer Mutter herrscht jedoch eine andere Art der Stille, eine, die darauf gründet, dass sie einander völlig fremd sind. Faith blickt ihrer Mutter nach, als diese zur Tür geht, und sobald sie außer Sichtweite ist, versteckt Faith eine Gabel voll Erbsen in ihrer Strumpfhose.
»Oh!« Die Stimme ihrer Mutter klingt ganz luftig und leicht. »Du kommst gerade rechtzeitig zum Essen.«
»Ich kann nicht bleiben«, hört Faith ihren Vater antworten. Sie versteift sich, fühlt, wie die Erbsen unter ihrem Oberschenkel zerquetscht werden. Sie hat ihren Vater seit diesem Tag nur einmal gesehen. Er hat sie im Krankenhaus besucht, mit dem hässlichsten Teddy, den man sich nur vorstellen kann, und während er ihre Hand gehalten und mit ihr gesprochen hat, hat sie die ganze Zeit diese Frau vor sich gesehen, die aus dem Badezimmer gekommen ist, als wäre sie bei ihnen zu Hause. Sie weiß nicht, warum die Frau mitten am Tag geduscht oder warum ihre Mutter geweint hat. Sie weiß nur, dass der ganze Zwischenfall eine bestimmte Farbe hatte, wie wildes Gekritzel, das über den Rand des Blattes hinausgegangen ist das gleiche Blauschwarz, das sie sich manchmal vorgestellt hat, wenn sie wach im Bett lag und durch die Wand ihre Eltern streiten hören konnte.
Ihr Vater kommt in die Küche und küsst sie auf die Stirn. »Hey, Toffee!« Er versucht, sie nicht so anzusehen, wie ihre Mutter es tut. »Wie geht es meinem Karamellbonbon?« Faith starrt ihn an und fragt sich, warum er ihr immer Spitznamen gibt, die etwas mit Essen zu tun haben.
»Meine Güte, Mariah!« Ihre Großmutter steht auf. »Wie konntest du ihn nur reinlassen?«
»Wegen Faith. Ich konnte nicht anders.«
Großmutter schnaubt. »Wegen Faith. Natürlich.« Sie tritt ganz dicht vor Faith’ Vater, und
Weitere Kostenlose Bücher