Die Wahrheit der letzten Stunde
einen Moment fragt sich Faith, ob ihre Oma ihm hier und jetzt eine scheuern wird. Aber sie piekst ihn nur mit dem Finger in die Seite. »Auf Wiedersehen, Colin. Du bist hier überflüssig.«
»Lass gut sein, Millie, ja?«
Ihre Mutter kommt mit einem Teller zurück. »Hier«, zwitschert sie. »Das macht überhaupt keine Mühe.«
»Mariah, ich sagte dir doch, dass ich nicht bleiben kann.«
»Es ist doch nur ein Abendessen …«
»Ich habe andere Pläne.«
»Du könntest sie ändern. Es wäre schön für Fai…«
»Jessica wartet im Wagen«, sagt ihr Vater angespannt. »Alles klar?«
Faith rennt vor der Stimme ihres Vaters davon und verkriecht sich schutzsuchend unter dem Arm ihrer Großmutter. Ihre Mutter lässt sich kraftlos auf einen Stuhl fallen, und der Teller landet so unsanft auf dem Tisch, dass Erbsen über den Tellerrand hüpfen. Die Kiefer ihres Vater mahlen sonderbar, und er bringt keinen Ton hervor.
Schließlich sagt er: »Ich wollte nur meine Tochter sehen. Tut mir leid.« Dann berührt er Faith’ Schulter und geht.
»Mein Gott, Ma! Musstest du das sagen?«
»Ja! Da du dazu offensichtlich nicht in der Lage warst!«
»Ich brauche deine Hilfe nicht.« Faith’ Mutter drückt die Hände an den Kopf. »Geh einfach.«
Faith gerät in Panik. Sie wollte ihren Vater auch nicht da haben, aber nur, weil sie wusste, dass es zu einer solchen Szene führen würde. Einmal hat ihre Lehrerin in der Schule eine Schüssel mit Wasser gefüllt und Pfefferpulver oben drauf gestreut. Dann hat sie auf einer Seite Spülmittel ins Wasser tropfen lassen, woraufhin der Pfeffer wie von Geisterhand auf die gegenüberliegende Seite der Schüssel geschossen ist. Aus irgendeinem Grund muss Faith, immer wenn sie an ihre Mutter und ihren Vater denkt, auch an dieses kleine Experiment denken.
»Faith«, sagt ihre Großmutter, »vielleicht solltest du heute Nacht besser bei mir schlafen.«
Ihre Mutter schüttelt den Kopf. »Auf gar keinen Fall. Sie bleibt hier.«
»Großartig!«
Faith versucht zu begreifen, was daran so großartig sein soll. Sie würde gern bei ihrer Großmutter übernachten. Ihre Mutter wird doch nur mit Leidensmiene herumsitzen und ihr ein Video einlegen. Bei ihrer Großmutter darf sie im Gästezimmer übernachten mit der großen schwarzen Nähmaschine in einer Ecke, der Kiste mit den Knöpfen und der kleinen Schale mit Zuckerwürfeln auf dem Nachttisch.
Aber dann verabschiedet sich ihre Großmutter, und ihre Mutter murmelt etwas von Negativ-Psychologie, dann sind sie allein mit dem Geschirr vom Abendessen auf dem Tisch. Faith betrachtet ihre Mutter lange schweigend. Sie sitzt ganz still da, das Gesicht in den Händen verborgen, sodass Faith bereits denkt, sie wäre eingeschlafen. Unsicher, was sie tun oder sagen soll, piekt Faith sie in die Seite. »Hast du Lust, etwas zu spielen?«
Als ihre Mutter aufblickt, sagt sich Faith, dass sie in ihrem ganzen Leben noch nie etwas so Trauriges gesehen hat. Außer vielleicht die Schildkröte im Zoo von San Diego im vorletzten Sommer, die den großen Kopf gehoben und Faith mit Blicken angefleht hatte, sie dorthin zurückzubringen, wo man sie weggeholt hatte.
Die Stimme ihrer Mutter ist dünn und brüchig. »Ich kann nicht.« Sie geht aus dem Zimmer. Faith bleibt zurück und fragt sich wieder einmal, welche die magischen Worte sein mögen, um zu erreichen, dass ihre Mutter bei ihr bleibt.
Mariah war schon immer der Meinung, es müsste für Liebeskranke eine Hilfsorganisation geben nach dem Schema der Anonymen Alkoholiker, um jene zu unterstützen, die an gebrochenem Herzen leiden. Ganz bestimmt gibt es genug von uns, denkt sie, die vom Zusammenhalt der Gruppe profitieren würden, wenn sie ihren Liebsten mit einer anderen Frau in den Armen erwischen oder wenn sie in seinen Augen lesen, dass er bereits angefangen hat, sie zu vergessen. Sie stellt sich jemanden mit dem Namen eines guten Samariters vor, der am Telefon mit ihr spricht wie eine Freundin aus der siebten Klasse, der ihr eine Dartscheibe mit seinem Gesicht darauf malt, den Schmerz lindert.
Aber stattdessen starrt sie auf die Visitenkarte mit der Pieper-Nummer ihres Psychiaters. Sie soll nur in dringenden Notfällen anrufen, womit in ihrem persönlichen Fall vermutlich eine Situation gemeint ist, in der sie kurz davorsteht, sich die Pulsadern aufzuschneiden oder an der Kleiderstange des Schlafzimmerschranks aufzuhängen. Sie möchte mit jemandem reden, weiß aber nicht, mit wem. Ihre Mutter ist ihre
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