Die Wahrheit der letzten Stunde
Verwirrung. »Wir sind zurückgekommen, das alleine zählt. Ich bin ins nächste Flugzeug gestiegen, als ich erfahren habe, dass Colin Klage eingereicht hat.«
Kenzie zuckt nicht mit der Wimper. Mariah fühlt, wie ihr unter dem Blusenkragen der Schweiß ausbricht; sie kann so deutlich in den Augen der Anwältin lesen, als stünden die Worte in Leuchtschrift auf ihrer Stirn geschrieben: Diese Frau lügt. Aber wenn sie Kenzie mehr erzählt, gibt sie damit zu, vor Colins Androhung rechtlicher Schritte davongelaufen zu sein. Dann würde sie damit ihre Beziehung zu Ian öffentlich machen, seine Privatsphäre mit Füßen treten. Sie hält Kenzies Blick stand, nicht bereit, diesmal wieder nachzugeben.
Zu ihrer Überraschung hakt Kenzie nicht weiter nach. Sie zückt nicht ihr Notizbuch, stellt weitere Fragen oder hält Mariah einen Vortrag, sondern rückt nur kaum merklich von Mariah ab. Dann konzentriert sie sich wieder auf das Flechten, und leise summend lässt sie Faith’ wunderschönes Haar durch die Finger gleiten wie Garn auf einem Webstuhl. Und Mariah kann nur hilflos zusehen, wie Kenzie alle losen Enden miteinander verknüpft.
»Ian, mein Gott. Ich bin ja so froh, dass du anrufst.«
Lächelnd schließt er die Hand fester um den Hörer. »Das ist aber ein netter Empfang, Liebes.«
»Ich glaube, sie weiß etwas. Die Prozesspflegerin. Sie hat heute Fragen gestellt, und Faith ist etwas herausgerutscht über Kansas City und …«
»Mariah, beruhige dich. Atme tief durch … So ist es richtig. Und jetzt noch einmal von vorn. Was ist passiert?« Er hört zu und runzelt die Stirn, als sie von der Unterhaltung mit Kenzie Van der Hoven erzählt. »Nun, ich denke, damit kann sie nicht viel anfangen. Sie weiß nur, dass jemand an Borxl war, den Faith kannte. Damit hätte sie auch einen von den Backstreet Boys meinen können oder Prince William.«
»Aber sie weiß, an welchem Tag wir geflogen sind und wann Colin den Sorgerechtsantrag gestellt hat.«
»Das hätte sie sowieso herausgefunden«, hält Ian ihr vor Augen. »Was eindeutig und unwiderlegbar für dich spricht, ist, dass du mit Faith zurückgekommen bist.« Er zögert bei dem Gedanken an sein Treffen mit Metz. »Ich habe dir doch gesagt, du sollst dir keine Sorgen machen, Mariah. ich habe doch versprochen, einen Weg zu finden. Vertraust du mir denn nicht?«
Einen furchtbaren Moment lang antwortet sie nicht. Dann kann Ian es fühlen, die Wärme, die ihn plötzlich noch vor ihrer Stimme durch den Hörer erreicht. »Doch, das tue ich, Ian.«
Er möchte etwas darauf erwidern, findet aber nicht die richtigen Worte.
»Es tut mir leid, dass ich dich da mit hineingezogen habe«, fügt Mariah hinzu.
Ian schließt die Augen. »Liebes, es gibt nichts, was ich lieber täte.« 16. November 1999
An dem Tag, als Kenzie und Millie Epstein sich in dem Cafe im Zentrum von New Canaan treffen, gibt es als Tagesgericht Fisch mit Fritten. »Schlimm«, beklagt sich Millie, über der Speisekarte brütend. »Ich muss auf mein Cholesterin achten, und der Karte ist nicht zu entnehmen, in was für Fett der Fisch gebraten ist.«
Das scheint die perfekte Eröffnung zu sein, und so beugt Kenzie sich vor, die Ellbogen auf die zerschrammte Tischplatte gestützt. »Ich nehme an, Sie achten jetzt verstärkt darauf, was Sie essen.«
Millie blickt auf. »Warum sollte ich? Sollte ich wieder umfallen, rufe ich gleich Faith anstelle des Notarztes.« Als der jüngeren Frau die Kinnlade herunterklappt, lächelt Millie mit blitzenden Augen. »Ich habe nur Spaß gemacht. Natürlich achte ich auf das, was ich esse. Aber das habe ich auch schon vor dem Infarkt getan. Ich habe mich gesund ernährt und pünktlich wie die Uhr meine Medikamente genommen. Lassen Sie mich Ihnen eine Frage stellen: Haben Sie meine Krankenhausakte eingesehen?«
»Das habe ich.«
»Glauben Sie daran, dass ich wiederauferstanden bin?«
Kenzie errötet. »Ich weiß nicht, ob >wiederauferstanden< das richtige Wort dafür ist…«
»Und was ist dann das richtige Wort? Ein Wunder?«
»Ich dachte da mehr an so etwas wie eine extrem seltene Reaktion des Nervensystems.«
»Aha«, murmelt Millie. »Glauben Sie an Gott, Ms. Van der Hoven?«
»Das tut nichts zur Sache. Und ich denke, ich bin diejenige, die hier die Fragen stellen sollte, Mrs. Epstein.«
Die alte Dame lässt sich jedoch nicht beeindrucken. »Mich macht es auch ein wenig nervös. Ich bin nicht der Gelobt-sei-Jesus-Christus-Typ, vermutlich wäre ich das nicht
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