Die Wahrheit der letzten Stunde
Rechter an dem Konferenztisch aus Chrom und Glas sitzen, machen sich eifrig Notizen seiner Anweisungen. »Lee, ich will über sämtliche Fälle der vergangenen zehn Jahre informiert werden, bei denen das Sorgerecht dem Vater übertragen wurde. Und ich will wissen, warum. Elkland, sehen Sie unsere Liste von psychiatrischen Gutachtern durch. Wir brauchen einen, der gewillt ist, vor Gericht den Standpunkt zu vertreten >einmal irre, immer irre<.« Er blickt auf und nimmt einen Apfel in die Hand, der bislang vor ihm auf dem Tisch gelegen hat. »Als was bezeichnet man einen Anwalt, der mit einem Betonklotz an den Füßen unten auf dem Meeresgrund liegt?«
Die jungen Anwälte tauschen einen Blick. Schließlich hebt Lee die Hand. »Als einen guten Anfang?«
»Hervorragend! Damit haben Sie sich die eidliche Aussage des vom Gericht bestellten psychiatrischen Gutachters verdient, der Colin White untersucht hat.«
»Und was tun Sie?«
Metz lacht. »Ich werde verdammt noch mal auf Knien zu Allah beten.« Er bringt flüchtig einige Notizen zu Papier, während die jüngeren Anwälte aufbrechen, um die ihnen zugewiesenen Aufgaben auszuführen. Dann drückt er den Knopf der Gegensprechanlage. »Janie, ich will nicht gestört werden.«
Früher hatte er immer scherzhaft hinzugefügt: »Es sei denn, Gott ist in der Leitung.« Aber das eigentlich Komische daran war, dass die meisten Mitarbeiter der Kanzlei diese Möglichkeit keineswegs ausgeschlossen hatten. Seit er den Fall White angenommen hat, hat Metz diese Phrase jedoch nicht mehr verwendet.
Er mag Colin White nicht, was allerdings an sich nichts Ungewöhnliches ist, da er keinen seiner Mandanten besonders gut leiden kann. Allerdings zollt er White Anerkennung für die Herausforderung, die er darstellt. Metz bietet sich durch ihn eine großartige Gelegenheit, Rechtsprechung par excellence zu präsentieren - etwas, das weniger mit Gerechtigkeit zu tun hat als mit Überzeugungskraft.
In ein paar Wochen wird er einen Gerichtssaal betreten und das Leben eines Versagers wie Colin White auf den Kopf stellen. Er wird seinen Mandanten so gekonnt neu erschaffen, dass Richter und Presse und vielleicht sogar der Anwalt der Gegenpartei seiner Version Glauben schenken werden.
Metz lacht in sich hinein. Und da heißt es, Chirurgen halten sich für Gott.
Er ist nicht religiös. Tatsächlich war die letzte Berührung mit organisierter Gottesverehrung, an die er sich erinnern kann, seine eigene Bar-Mizwa. Metz erinnert sich noch an das rote Kleid, das seine Mutter an jenem Tag getragen hat, an den ungewohnten neuen Anzug, in dem er selbst steckte, an den überraschenden Klang seiner eigenen Stimme, als diese die Worte aus der Thora sang. Er hatte solche Angst gehabt, dass er sich fast in die Hose gepinkelt hatte, und dann später auf dem Empfang, als seine Tanten sich in betäubenden Parfümwolken über ihn gebeugt hatten, war er fast ohnmächtig geworden. Aber es war diese Qual wert gewesen, denn hinterher hatte sein Vater ihn auf die Herrentoilette begleitet, an seiner Seite uriniert und ohne ihn anzusehen gesagt: »Jetzt bist du ein Mann.«
Es war das erste Mal, dass Metz seine, die Worte seines Vaters, benutzt hatte, um einen Menschen umzumodeln - damals sich selbst.
Er richtet seine Aufmerksamkeit wieder auf die Akte vor ihm. Colin White, Mariah White, Faith White lauten die Namen auf dem juristischen Dokument. Von »Gott« ist nirgends die Rede. Und Malcolm Metz’ Interpretation des Gesetzes gemäß ist das auch völlig richtig so.
18. November 1999
Kenzie hat in ihrem ganzen Leben noch nie einen Tempel betreten. Ihr ist bewusst, dass sie neugierig auf die reich verzierte Kuppel starrt, auf die fremdartigen hebräischen Gebetsbücher, die Bima. »Es sieht genauso aus wie eine Kirche«, sagt sie und schlägt, kaum dass sie den Gedanken ausgesprochen hat, eine Hand vor den Mund.
Rabbi Weissman lächelt. »Wir haben etwa vor einem Jahr damit aufgehört, nackt um ein Feuer herumzutanzen.«
»Entschuldigen Sie.« Kenzie schaut ihm in die Augen. »Ich bin nicht sehr vertraut mit dem Judaismus.«
»Und doch gelten Sie von Rechts wegen als Expertin.« Er deutet auf eine Bankreihe. »Sie möchten also wissen, ob Faith White tatsächlich mit Gott kommuniziert. Ms. Van der Hoven, ich selbst kommuniziere mit Gott. Und doch steht kein Kamerateam von Hollywood Tonight! draußen vor meinem Büro.«
»Sie sagen also…«
»Ich sage, dass Gott in seiner grenzenlosen Weisheit mir
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