Die Wahrheit der letzten Stunde
beste Freundin, aber Millie hat sie gerade fortgeschickt. Sie hat Bekannte, deren Ehemänner Arbeitskollegen von Colin sind; es gibt Paare, die bestimmt mit ihm und Jessica zusammen zum Abendessen gehen werden. Sie fühlt bittere Galle in ihrer Kehle aufsteigen. Es erscheint ihr einfach nicht richtig, dass diese Frau ihren Mann, ihre Freunde, ja ihr ganzes bisheriges Leben bekommen soll.
Es gibt vieles, was sie tun sollte. Sie sollte nach Faith sehen, ihr ihre Antibiotika-Tabletten geben und den Verband auf ihrem Rücken wechseln, bevor sie sie zu Bett bringt. Sie sollte ihre Mutter anrufen und sich bei ihr entschuldigen. Wenigstens aber sollte sie den Tisch abräumen.
Stattdessen ertappt sie sich dabei, wie sie auf das Bett starrt. Die ganze Nacht stellt sie sich vor, sie würde in Ausbuchtungen und Mulden der Matratze rollen, als hätten Colin und Jessica dort spürbare Abdrücke hinterlassen. Sie zieht die Tagesdecke vom Bett und baut sich ein Nest auf dem Fußboden. Sie häuft die Laken obenauf und stellt sich Colins Gesicht vor, so wie sie es früher in ihrem schmalen Bett im College-Schlafsaal getan hat. Sie liegt völlig still da, ohne die Tränen zu beachten, die ihr ohne Vorwarnung aus den Augen schießen wie Geysire, wie heiße Quellen mit wundersamen Heilkräften.
Faith weiß, dass ihre Mutter weint, so sehr weint, dass sie kaum noch Luft bekommt. Es ist ein erstickter Laut, aber mit dem Kopfkissen ebenso schwer auszublenden wie früher die Ehestreitigkeiten. Ihr ist auch nach Weinen zumute. Faith überlegt, ob sie ihre Großmutter anrufen soll, aber dann fällt ihr ein, dass ihre Großmutter ab sieben Uhr den Hörer aushängt, um nicht von Telefonwerbern belästigt zu werden. Also rollt sie sich mit nacktem Oberkörper im Bett zusammen, den alten Teddy an sich gedrückt, der nach Johnson’s Babyshampoo riecht.
So bleibt sie lange liegen, dann träumt sie, dass eine Frau in einem langen weißen Nachthemd vor ihr sitzt. Da man sie eindringlich vor Fremden gewarnt hat, zuckt sie zurück.
»Faith«, sagt die Frau. »Du brauchst dich vor mir nicht zu fürchten.«
Langes dunkles Haar, traurige dunkle Augen. »Kenne ich Sie?«
»Möchtest du das denn?«
»Ich weiß nicht.« Faith würde furchtbar gern das Nachthemd der Fremden berühren. Sie hat noch nie etwas Vergleichbares gesehen. Es sieht so weich aus, als könnte man so tief darin versinken, dass man nicht mehr herausfindet. »Sind Sie eine Freundin meiner Mutter?«
»Ich bin deine Beschützerin.«
Sie denkt einen Moment darüber nach und überlegt, ob eine Person, die sie noch nie gesehen hat, so ohne Vorankündigung in ihr Leben treten kann.
»Mit wem sprichst du?« Plötzlich steht Faith’ Mutter in der Tür, die Augen rot und verquollen, eine Tube Bacitracin in den Händen.
Erschrocken schaut Faith sich im Zimmer um, aber die Fremde — und der Traum - sind verflogen. »Mit niemandem«, antwortet sie und dreht sich um, damit ihre Mutter die Nähte auf ihrem Rücken versorgen kann.
Zwei Tage später schreckt Mariah nachts aus dem Schlaf hoch. Sie geht barfuß den Flur hinunter und spürt, noch bevor sie das Zimmer ihrer Tochter erreicht hat, dass Faith nicht da ist.
»Faith?«, flüstert sie. »Faith!« Sie reißt die Tagesdecke von dem verlassenen Bett und sieht dann im Schrank nach. Sie steckt den Kopf durch die Badezimmertür und rennt nach unten, um im Spielzimmer und in der Küche nachzusehen. Inzwischen hat sie pochende Kopfschmerzen, und ihre Hände sind ganz feucht. »Faith«, ruft sie. »Wo bist du?«
Mariah denkt an die Geschichten, von denen sie in der Zeitung gelesen hat, von Kindern, die mitten in der Nacht aus ihrem Elternhaus entführt wurden. Sie stellt sich die tausend Gefahren vor, die überall am Wegrand lauern. Dann sieht sie durch das Fenster etwas Silbernes aufblitzen.
Faith ist draußen im Garten und kriecht vorsichtig in drei Metern Höhe über den kesseldruckimprägnierten oberen Querbalken der Schaukel. Das hat sie schon öfter gemacht, geschmeidig wie eine Katze, während Mariah in Panik fürchtete, sie würde abstürzen. »Würdest du mir sagen, was du mitten in der Nacht hier draußen machst?«, fragt Mariah, leise, um sie nicht zu erschrecken.
Faith blickt auf sie herab, nicht im Mindesten überrascht, entdeckt worden zu sein. »Meine Beschützerin hat mir gesagt, ich soll herkommen.«
Mariah hat mit verschiedenen Erklärungen gerechnet, aber ganz sicher nicht mit dieser. »Deine was?«
»Meine
Weitere Kostenlose Bücher