Die Wahrheit der letzten Stunde
wenn man in ihn hinabschaute.
Faith bewegt sich im Schlaf, und Mariah dreht sich sofort zu ihr herum. Wie von ganz allein tastet sich Faith’ bandagierte Hand über die Decke des Krankenhausbettes und schiebt sich unter Mariahs. Bei dieser Berührung beruhigt Faith sich sofort und entspannt.
Plötzlich fragt sich Mariah, ob Augenblicke wie dieser eine gute Mutter ausmachen: die Erkenntnis, dass man, wie sehr man sich auch bemüht, nicht in der Lage sein wird, sein Kind vor Tragödien, Fehltritten oder Albträumen zu bewahren. Vielleicht ist es ja gar nicht die Aufgabe einer Mutter, zu behüten, sondern da zu sein, wenn ein Kind einen harten Sturz erleidet… um anschließend die Auswirkungen des Falls zu mildern.
Mariah hat die Hände ganz fest auf den Mund gedrückt. Sie muss sie dort belassen, um nicht in unkontrolliertes Schluchzen auszubrechen oder eine der wohlmeinenden Krankenschwestern wütend von ihrer Tochter wegzujagen.
»Ich verstehe das nicht«, sagt Millie ruhig, die neben Mariah ein paar Schritte von Faith’ Bett entfernt steht. »Sie ist doch noch nie so krank gewesen. Vielleicht liegt es gar nicht an den Blutungen; vielleicht hat sie sich zusätzlich einen Virus eingefangen.«
»Es ist kein Virus«, sagt Mariah tonlos. »Sie stirbt.«
Millie blickt verdattert zu ihr auf. »Wie um alles in der Welt kommst du denn auf so was?«
»Sieh sie doch an!«
Faith’ Gesicht ist so bleich, dass es sich kaum vom Kopfkissen abhebt. Ihre immer noch blutenden Hände stecken noch in denselben dicken Verbänden. Das Fieber ist auf vierzig Grad gestiegen, trotz der kalten Wadenwickel, der Waschungen mit Franzbranntwein und soundsoviel Milligramm Tylenol und Advil, die ihr intravenös verabreicht wurden. Sie anzusehen macht Mariah nervös. Sie starrt wie gebannt auf jede noch so leichte Bewegung von Faith’ Nasenflügeln, zählt verstohlen ihre kaum wahrnehmbaren Atemzüge.
Millie schürzt die Lippen und tauscht Faith’ Zimmer gegen die vergleichsweise friedliche Ruhe draußen am Empfang. »Hat Colin sich schon gemeldet?«, fragt sie, da die Telefone in Faith’ Zimmer abgestellt wurden, damit sie nicht gestört wird.
»Nein, Mrs. Epstein«, antwortet die Schwester. »Ich gebe Bescheid, sobald er angerufen hat.«
Anstatt in Faith’ Zimmer zurückzugehen, wandert Millie den Flur hinunter. Schließlich bleibt sie stehen und bedeckt das Gesicht mit den Händen.
»Mrs. Epstein?«
Hastig wischt sie sich die Tränen aus dem Gesicht und sieht Dr. Blumberg vor sich stehen. »Beachten Sie mich gar nicht«, sagt sie schniefend.
Seite an Seite steuern sie langsam die Tür zu Faith’ Zimmer an. »Irgendeine Veränderung seit gestern Abend?«
»Nicht, dass ich wüsste«, entgegnet Millie und bleibt auf der Schwelle stehen. »Ich mache mir Sorgen um Mariah. Vielleicht könnten Sie ja mit ihr reden.«
Dr. Blumberg nickt und betritt das Zimmer. Mariah hebt den Blick gerade so weit, um zu sehen, dass die Krankenschwestern eilig das Zimmer verlassen. Der Arzt zieht sich einen Stuhl heran. »Wie geht es Ihnen?«
»Ich würde mich lieber über Faith unterhalten.«
»Nun, ehrlich gesagt weiß ich nicht, was ich im Augenblick für sie tun könnte. Was allerdings Sie betrifft… Möchten Sie vielleicht etwas haben, das Ihnen hilft, etwas zu schlafen?«
»Ich möchte, dass Faith aufwacht und mit mir nach Hause kommt«, antwortet sie bestimmt und starrt dabei auf Faith’ Ohrmuschel. Manchmal, als Faith noch ein Baby war, hatte Mariah durch die durchscheinende Haut das Blut in den Adern des Babys beobachtet und sich eingebildet, sogar die Blutplättchen und Zellen sehen zu können, die Energie, die in diesem winzigen Körper kursierte.
Dr. Blumberg lässt die verschränkten Hände zwischen den Knien herabbaumeln. »Ich weiß nicht, was mit ihr los ist, Mariah. Ich werde heute morgen weitere Laboruntersuchungen durchführen lassen. Ich werde mein Möglichstes tun, damit sie wieder gesund wird, das schwöre ich Ihnen.«
Mariah starrt den Doktor an. »Wollen Sie wissen, was mit ihr los ist? Sie stirbt. Wie kommt es, dass ich das auch ohne Medizindiplom erkennen kann?«
»Sie stirbt nicht. Wenn es so wäre, würde ich es Ihnen sagen.«
Mariah blickt eindringlich auf Faith’ Gesicht, auf die blauen Schatten unter ihren Augen, die Rundung ihrer kleinen Nase. Sie beugt sich zu ihr, so nah, dass nur Faith sie hören kann. »Lass mich bloß nicht im Stich«, flüstert sie. »Wag es ja nicht. Das hast du all die Jahre
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