Die Wahrheit der letzten Stunde
davon abgehalten, sich in der Vergangenheit in ihr Leben einzumischen. Er setzt sich neben Mariah auf einen freien Stuhl. »Ich bin als Freund gekommen und nicht als Priester«, erklärt er sanft.
Er blickt auf Faith’ kleines spitzes Gesicht - viel zu jung, um eine solche Kontroverse auszulösen. »Wieder ihre Hände?«
Mariah nickt. »Und diesmal hat sie dazu noch Fieber. Und ist dehydriert. Und dann das Schreien und die Anfälle.« Sie fährt sich mit den Händen über das Gesicht. »Es war schlimmer als beim ersten Mal, viel schlimmer.«
»Anfälle?«
Mariah schauert. »Colin und ich … wir konnten sie zusammen kaum bändigen. Das erste Mal, als es dazu kam, war sie bewusstlos. Aber diesmal… diesmal hatte sie schreckliche Schmerzen.«
Vater MacReady streicht Faith sanft mit der Handfläche über die Wange. »Eli, Eli, lema sabachtani..«, murmelt er.
Mariah ist wie vom Donner gerührt. »Was haben Sie da gesagt?«
Überrascht wendet der Priester sich ihr zu. »Das ist Hebräisch…«
Mariah denkt daran zurück, wie Faith am Vorabend nach Eli gerufen hat. Bei den anderen fremd klingenden Silben ist sie sich nicht sicher, aber es könnten die Worte gewesen sein, die Faith außerdem gestöhnt hat. Sie erzählt dem Priester davon.
»Das ist ein Bibelvers«, erklärt dieser ihr. »Matthäus siebenundzwanzig sechsundvierzig.«
»Faith spricht nicht Hebräisch.«
»Aber Jesus hat es gesprochen. Das war seine Muttersprache. Die Worte bedeuten: >Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?< Der heilige Matthäus erzählt uns, dass Christus seinem Tod nicht mit Frieden im Herzen begegnet ist. Im letzten Moment wollte er wissen, warum Gott ihm diese Bürde auferlegt hat.« Er zögert, ehe er Mariah ansieht. »Die Blutungen, die Schmerzen, dieser Vers … das klingt ganz danach, als hätte Faith sich in Ekstase befunden.«
»Agonie wäre wohl zutreffender.«
»Ich verwende diesen Begriff nicht so, wie Sie ihn vermutlich verstehen. Die meisten echten Stigmatisierten haben Phasen religiöser Ekstase erlebt. Ohne diese Ekstase wäre es nur eine unerklärliche Blutung an den Händen.« In diesem Moment bewegt Faith sich im Schlaf, die Bettdecke verrutscht, und die Wunde an ihrer Seite wird sichtbar. Vater MacReady holt tief Luft. »Das auch?« Als Mariah nickt, ist ihm bewusst, dass er über das ganze Gesicht strahlt, eine Reaktion, die kaum angebracht ist angesichts des Ernstes der Lage. Aber die Wunde an Faith’ rechter Seite befindet sich ziemlich genau an der Stelle, an der Jesus von der Lanze des römischen Soldaten verletzt wurde. Allein bei dem Gedanken wird ihm ganz schwummerig.
Er reißt sich zusammen und besinnt sich auf seine Pflichten als geistlicher Beistand. »Mariah, Faith spürt nicht ihre eigenen Schmerzen. Nach allem, was Sie mir erzählt haben, denke ich, dass sie die Schmerzen nachempfunden hat, die Jesus am Kreuz ertragen musste.«
»Warum sie?«
»Warum er?«, entgegnet Vater MacReady leise. »Wir wissen nicht, warum Gott uns seinen einzigen Sohn geschickt hat, um ihn dann für unsere Sünden sterben zu lassen. Und wir wissen nicht, warum Gott manche Menschen die Passion Christi nachempfinden lässt, während andere diese nicht einmal zu begreifen in der Lage sind.«
»Passion«, zischt Mariah. »Ekstase. Wer sich das als Beschreibung hat einfallen lassen, hat diese Qualen jedenfalls nicht selber durchgemacht.«
»Passion ist abgeleitet vom lateinischen passio, was bedeutet >leiden<.«
Mariah wendet sich ab von Vater MacReadys ehrlicher Überzeugung. Passion. Sie wiederholt das Wort leise für sich und denkt an Ian, Colin, Faith, fragt sich, ob Liebe - ob irdischer oder göttlicher Natur - eigentlich immer mit Leid verbunden sein muss.
Als die Krankenschwestern kommen, um Faith wieder zum Röntgen zu bringen, verabschiedet Mariah sich von dem Priester. Ihr ist ziemlich gleichgültig, was aus Vater MacReady wird. Es ist ihr gleich, ob Faith eigene Schmerzen spürt oder jene von Jesus. Sie will nur, dass sie aufhören.
Faith sitzt in einem Rollstuhl und nickt immer wieder ein. Mariahs Hand liegt auf ihrer Schulter, als die Schwester sie in den Fahrstuhl schiebt. Im dritten Stock verlassen sie den Fahrstuhl wieder und warten auf dem Flur, während die Schwester nachfragt, in welchen Raum sie sich begeben sollen.
Während sie noch auf dem Korridor sind, wird ein Mann auf einer Trage eilig vorbeigeschoben. Die Trage ist von einer Traube von Ärzten umgeben, die auf dem Weg
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