Die Wahrheit der letzten Stunde
Ehren!«
Metz gönnt ihr nicht einmal einen Blick. »Urteilen Sie selbst anhand der Beweise, Euer Ehren. In der Psychiatrie wird das Münchhausen-Syndrom in der Regel dadurch diagnostiziert, dass man Mutter und Kind trennt. Hat die Mutter keinen Zugang mehr zu ihrem Kind, ist dieses plötzlich nicht mehr ständig krank.« Er lehnt sich weiter vor. »Was haben Sie zu verlieren, Euer Ehren? Von dieser Entscheidung können nur alle profitieren. Leidet Mariah White nicht am Münchchausen-Syndrom … nun, Faith ist sowieso im Krankenhaus und in guten Händen. Leidet Mrs. White aber tatsächlich an dieser psychischen Störung, retten Sie dem Kind das Leben. Was kann es schaden, einen vorübergehenden Beschluss zu erlassen, bis Sie die Aussage meines Gutachters gehört und sich selbst ein Bild gemacht haben?«
Richter Rothbottam wendet sich Joan zu. »Haben Sie etwas dazu zu sagen, Standish?«
Sie blickt von Metz zum Richter. »Das ist Quatsch, Euer Ehren. Erstens hat meine Klientin - anders als Mr. Metz’ Mandant, der ganz offensichtlich seine eigenen Interessen allem voranstellt - es vorgezogen, dem Gericht fernzubleiben, weil ihre Tochter sie braucht. Das spricht für sie und sollte nicht mit einem Besuchsverbot bestraft werden. Zweitens versucht Mr. Metz mit dieser Taktik nur, von der aufopferungsvollen Liebe meiner Mandantin zu ihrem Kind abzulenken. Ich weiß nicht, worum es sich bei diesem Syndrom handelt; ich weiß nicht einmal, wie man es schreibt. Diese Verhandlung beginnt in weniger als einer halben Stunde, und ich bin bereit, und dann schüttelt Mr. Metz plötzlich diese obskure klinische Diagnose aus dem Ärmel - ich kann mich im Übrigen nicht erinnern, dass er Psychologie studiert hätte -, und ich brauche Zeit, um diesen Punkt zu recherchieren und entsprechend Stellung beziehen zu können.«
»M-Ü-N…«, beginnt Metz langsam zu buchstabieren.
»Sie können mir mal im Mondschein begegnen.«
Mit gespielter Entrüstung hebt er beschwichtigend die Hände. »Ich wollte nur behilflich sein.«
»Ich bin noch nicht fertig, Metz.« Sie wendet sich wieder dem Richter zu. »Er kann nicht aus heiterem Himmel am Tag - nein, falsch - in der Minute, da der Prozess beginnt, einen neuen Zeugen aus dem Hut zaubern. Das ist nicht fair.«
Rothbottam richtet das Wort an Metz. »Wenn Sie auf das ganze Theater verzichten, das Sie zweifellos bei Ihren Zeugenvernehmungen vorgesehen haben, wie lange werden wir dann schätzungsweise brauchen, um Ihre anderen Zeugen zu hören?«
»Ich weiß nicht genau. Möglicherweise bis morgen.«
Der Richter denkt einen Moment darüber nach. »Also gut. Ich werde eine einstweilige Verfügung erlassen. Lassen Sie uns improvisieren. Wir fangen mit dem Prozess an, und Sie, Mr. Metz, rufen Ihren Münchhausen-Gutachter als letzten auf. Hiernach setzen wir uns noch einmal zusammen und besprechen, ob Ms. Standish zusätzliche Zeit benötigt, um ihr Kreuzverhör vorzubereiten.«
»Ich denke, es wäre nützlich, wenn alle die Aussage des Experten vorab hören würden …«
»Sie können von Glück sagen, dass ich diesen Gutachter überhaupt als Zeugen zulasse. Basta. Wir machen es so, wie ich gesagt habe. Diese Lösung gefällt mir: Das Kind ist sicher, Joan bekommt wenigstens einen Tag, um sich vorzubereiten, und was Sie davon halten, Mr. Metz, interessiert mich offen gestanden nicht die Bohne.« Der Richter lässt die Fingerknöchel knacken und zeigt auf die Tür. »Sollen wir?«
Früh an diesem Morgen betritt Vater MacReady Faith’ Zimmer. Er verweilt einen Moment auf der Schwelle beim Anblick von Faith, die an Infusionsschläuche angeschlossen unnatürlich still daliegt, und Mariah, die den Unterarm ihrer Tochter hält und offenbar eingedöst ist. Vielleicht ist das nicht der richtige Zeitpunkt für einen Besuch; er hat gerade erst von einem Kirchgänger erfahren, dass das Mädchen am Vorabend mit dem Krankenwagen eingeliefert wurde, und wollte nach ihr sehen. Leise will er sich zurückziehen, aber das Quietschen seiner Stiefelsohlen auf dem Linoleum lässt Mariah aus dem Schlaf hochschrecken.
»Oh«, sagt sie mit rauer Stimme und räuspert sich. Als sie den Besucher erkennt, reagiert sie ärgerlich. »Was wollen Sie denn hier?«
Vater MacReady zählt zwei und zwei zusammen; offenbar glaubt Mariah aus irgendeinem Grund, er wäre hergekommen, um Faith die letzte Ölung zu verabreichen. Dazu würde es niemals kommen, da Faith gar nicht katholisch war, aber das hatte ihn ja auch nicht
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