Die Wahrheit der letzten Stunde
zur Intensivstation ihr Möglichstes tun, um den Patienten am Leben zu halten. Mariah hört die Ärzte nach einem Defibrillator und OP 3 rufen und erschauert bei der Erinnerung an den Herzanfall ihrer Mutter. Die Hand des Mannes hängt kraftlos von der Trage herab und streift Faith’ Knie, als er vorbeigerollt wird.
Aber Faith, die leise vor sich hinstöhnt, scheint nichts davon zu merken.
»Mariah.«
Als sie nicht antwortet, packt Millie sie bei den Schultern und schüttelt sie. »Hast du überhaupt ein Wort von dem mitbekommen, was ich gesagt habe?«
»Fahr zurück, Ma. Ich versuche, später nachzukommen.«
»Du verstehst nicht. Wenn du nicht aufstehst und mitkommst, wird die Polizei dich gewaltsam hier wegholen.« Millie beugt sich über sie. »Wenn du nicht zum Prozess kommst, wird man Colin das Sorgerecht für Faith zusprechen.«
Dieser eine Satz dringt bis zu ihr durch. »Das darf nicht sein«, sagt sie und steht langsam auf. »Es darf einfach nicht sein.«
Millie seufzt erleichtert auf bei diesem ersten bescheidenen Erfolg ihrer Bemühungen. Mit der selbstverständlichen Geste einer Mutter legt sie Mariah den Mantel über die Schultern. »Dann tu etwas dagegen.«
»Macht Schluss.« Dr. Urquhart seufzt. Im OP 3 streift sich der Herzchirurg die Handschuhe mit der Innenseite nach außen von den Händen, um das Blut aus der Brust seines Patienten in ihnen einzuschließen. Er hört eine Schwester sagen »neun Uhr achtundfünfzig«, gefolgt vom Kratzen einer Mine auf der Krankenakte. Urquharts Finger pochen. Zehn Minuten Herzmassage haben nicht ausgereicht, um den Mann zu retten, aber nachdem er den Brustkorb des Patienten geöffnet hatte, wusste er, dass ihn auch die nächsten paar Streifen Frühstücksspeck umgebracht hätten. Bei einer Verkalkung der Herzarterien von achtzig respektive fünfundsiebzig Prozent grenzt es an ein Wunder, dass Mr. Eversly überhaupt so lange gelebt hat.
Er hört, wie einer der Assistenzärzte sich bereit macht, den Brustkorb des Patienten wieder zu verschließen. Stöhnend denkt Dr. Urquhart daran, dass er das Schlimmste noch vor sich hat. Gibt es etwas Schlimmeres, als Verwandten beibringen zu müssen, dass ein Patient einem unter dem Messer weggestorben ist, und das einen Tag vor Weihnachten.
Er greift nach der Patientenakte, um den Tod mit seiner Unterschrift zu bestätigen, fährt die Mine des Kugelschreibers aus und wird im letzten Moment von der Stimme des AssistenzArztes gestoppt. »Dr. Urquhart. Sehen Sie sich das an.«
Er folgt dem Blick des Kollegen zum Herzmonitör, der keine flache Linie mehr anzeigt. Verblüfft sieht er auf den offenen Brustkorb des Patienten, in dem ein gesundes Herz mit freien Arterien gleichmäßig und kräftig schlägt.
»Erheben Sie sich für den Vorsitzenden, Richter A. Warren Rothbottam!«
Füßescharren begleitet vom Klimpern einzelner Münzen in Hosentaschen, als alle im Saal aufstehen. Der Richter schreitet zu seinem Tisch, ein Auge auf den vollgepackten Zuschauerraum. Rothbottam hat gehört, dass so viele Leute in den Saal wollten, dass die Gerichtsdiener die letzten freien Plätze schließlich verlosen mussten.
Er wirft einen Blick auf den Tisch der Verteidigung und stellt erleichtert fest, dass Mariah White dort ist, wo sie hingehört. Sie hat die Hände gefaltet und den Blick auf sie geheftet, als könnten sie jeden Moment hochzucken und sie verraten.
Rothbottam richtet das Wort an die Zuschauer. »Lassen Sie mich eins von vornherein klarstellen. Ich bin weder dumm noch naiv genug, um anzunehmen, dass der Andrang in diesem Saal etwas mit meinen richterlichen Fähigkeiten zu tun hat oder damit, dass die Medien plötzlich ein gesteigertes Interesse an Sorgerechtsfällen entwickelt hätten. Ich weiß sehr genau, wer Sie alle sind und was Sie hier wollen. Zu Ihrer Information: das hier ist kein Nachrichtensender, sondern mein Gerichtssaal. Und hier in diesem Saal bin ich Gott.« Er legt beide Hände flach auf den Tisch. »Wenn ich einen von Ihnen mit einer Kamera erwische, wenn einer zu laut hustet, applaudiert oder einen Zeugen ausbuht… beim ersten Anzeichen von Disziplinlosigkeit werfe ich Sie alle hochkant raus. Und diesbezüglich dürfen Sie mich ruhig zitieren.«
Die Reporter sehen sich an und verdrehen die Augen. »Anwälte«, wendet Rothbottam sich hiernach an die Rechtsbeistände beider Parteien. »Darf ich davon ausgehen, dass Sie sich in der vergangenen halben Stunde keine weiteren Dringlichkeitsanträge
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