Die Wahrheit der letzten Stunde
gleichbleibenden Beeinflussung ausgesetzt.«
»Eine angebliche Vision könnte also auch durch das Syndrom bestärkt werden?«
»Ja, obgleich Sinnestäuschungen und Halluzinationen bei einem Kind wahrscheinlicher sind, wenn die Mutter selbst zu irgendeinem Zeitpunkt mit solchen Sinnestäuschungen oder Halluzinationen in Berührung gekommen ist.«
»Beispielsweise, wenn sie einige Zeit in einer Nervenheilanstalt verbracht hat?«
Dr. Birch nickt. »Das würde dem Schema entsprechen.«
»Doktor, was passiert, wenn man die Mutter mit ihrem Verhalten konfrontiert?«
»Nun, sie wird lügen und alles abstreiten. In einigen seltenen Fällen kann es sogar sein, dass die Mutter sich ihres Verhaltens nicht bewusst ist, weil sie ihrem Kind in einer dissoziativen Phase infolge eines vorangegangenen Traumas wehtut.«
»Heißt das, man kann diese Frauen ganz direkt fragen, ob sie ihren Kindern wehtun, und sie verneinen?«
»Sie werden alle dies abstreiten«, sagt Birch. »Das gehört zur Symptomatik dieser psychischen Störung.«
»Eine Frau, die schockiert, verwirrt oder sogar mit Empörung und Zorn reagiert, wenn man sie mit diesem Verhalten konfrontiert — eine Frau, die sich nicht erinnern kann, ihrem Kind wehgetan zu haben -, könnte also trotz allem schuldig sein?«
»Das ist richtig.«
»Ich verstehe«, sagt Metz langsam. »Und wie diagnostiziert man das Münchhausen-Syndrom, Doktor?«
Dr. Birch seufzt. »Sehr zurückhaltend, Mr. Metz, und nicht oft genug. Vergessen Sie nicht, dass es um Kinder geht - und die werden Ihnen nicht sagen, was man ihnen antut, weil die Mutter ihre Leiden mit Liebe belohnt. Eltern sind die wichtigsten Informanten für Ärzte, die einfach davon ausgehen, dass deren Schilderungen der Erkrankung ihres Kindes zutreffend sind. Aber die meisten Ärzte kommen gar nicht darauf, die Diagnose beim Kind anhand einer Diagnose der Eltern zu erstellen.
»Hinzu kommt, dass diese Mütter nicht von normalen Müttern zu unterscheiden sind. Sie streiten ab, ihrem Kind wehzutun, und ironischerweise wirken sie auf Außenstehende sogar besonders fürsorglich. Ein Hinweis auf das Münchhausen-Syndrom kann eine lange komplizierte Krankengeschichte sein. Oder eine Symptombeschreibung, die fast so klingt wie aus dem Lehrbuch. Oder bei psychischen Problemen die Feststellung, dass verabreichte Medikamente nicht anschlagen… da diese Kinder natürlich nicht wirklich psychotisch sind.« Birch lehnt sich auf seinem Stuhl zurück. »Aber der einzige sichere Weg, dieses Syndrom zu diagnostizieren, ist der, die Mutter in flagranti zu erwischen - mit Hilfe von versteckten Kameras im Krankenhauszimmer. Oder man trennt Mutter und Kind. Wenn es sich tatsächlich um einen Fall von Münchhausen-Syndrom handelt, wird der Zustand des Kindes sich hierauf rasch bessern.«
»Doktor, haben Sie mit Faith White gesprochen?«
»Nein, aber das lag nicht an mir. Ich habe heute dreimal im Krankenhaus nachgefragt, aber mir wurde jedes Mal erklärt, sie sei zu krank, um mit mir zu sprechen.«
»Haben Sie mit Mariah White gesprochen?«
»Nein, aber ich habe Unterlagen über ihren Aufenthalt in der Psychiatrie und ihre derzeitige geistige Verfassung gelesen.«
»Entspricht Mariah White dem Profil einer Frau, die am Münchhausen-Syndrom leidet?«
»In vieler Hinsicht. Das abnorme Verhalten ihres Kindes trat nach einer Phase großen emotionalen Stresses auf. Mrs. White hat den Eindruck einer besorgten Mutter gemacht, indem sie ihre Tochter in psychiatrische Behandlung gegeben hat - an dieser Stelle möchte ich anmerken, dass sie nicht auf die Medikation angesprochen hat - sowie zu einem späteren Zeitpunkt ins Krankenhaus gebracht hat. Aber am verräterischsten in diesem Fall ist womöglich, dass ausgerechnet Stigmata als Krankheit angeführt wurden. Blutungen sind verhältnismäßig leicht herbeizuführen, aber Stigmata sind ein geradezu brillanter Einfall. Wenn Symptome in keinem Lehrbuch nachzulesen sind, kann auch keine Diagnose erfolgen. Welcher Arzt kann schon ausschließen, dass es sich um Stigmata handelt, wenn er noch nie im Leben echte Stigmata gesehen hat?«
»Ist das alles, Doktor?«
»Nein. Mrs. White hat außerdem eine Vorgeschichte psychischer Probleme. Sie hat infolge ehelicher Streitigkeiten versucht, sich das Leben zu nehmen - und plötzlich waren hundert Ärzte und Schwestern da, die sich um sie kümmerten. Auf irgendeiner Ebene setzt sie geliebt und umsorgt zu werden auf eine Stufe. Und das könnte erklären,
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