Die Wahrheit der letzten Stunde
Silberbirke sitzt er steif im Zeugenstand, mit dem unerschütterlichen Selbstbewusstsein einer Person, die weiß, dass sie auf ihrem Gebiet herausragend ist.
»Wo haben Sie studiert, Doktor?«
»An der Harvard University und anschließend an d<
Yale Medical School. Mein Praktikum habe ich am UCLA Medical Center absolviert und hiernach zehn Jahre am Mount Sinai in New York City praktiziert, bevor ich mich mit einer eigenen Praxis in Kalifornien niedergelassen habe. Dort praktiziere ich jetzt seit elf Jahren.«
»Was ist Ihr Spezialgebiet?«
»Ich habe vorwiegend mit Kindern zu tun.«
Metz nickt. »Sind Sie mit einer psychischen Störung namens Münchhausen-Syndrom oder -Neurose vertraut?«
»Ja. Tatsächlich gelte ich auf diesem Gebiet als einer der drei führenden Spezialisten.«
»Könnten Sie uns erläutern, worum es sich bei dieser Krankheit handelt?«
»Natürlich. Das Münchhausen-Syndrom, so genannt nach dem Baron aus dem achtzehnten Jahrhundert, der berühmt wurde durch seine absurden Lügengeschichten, bezieht sich auf eine Person, die bei einer anderen, sich in ihrer Obhut befindlichen Person bewusst körperliche oder psychische Symptome hervorruft.« Der Psychiater kommt jetzt richtig in Fahrt. »Knapp formuliert handelt es sich um eine Person, die eine andere krank macht oder dieser einredet, krank zu sein.
Die Mehrzahl der Opfer des Münchhausen-Syndroms sind Kinder. In den meisten Fällen erzeugt die Mutter künstlich irgendwelche Symptome bei ihrem Kind oder verstärkt bereits bestehende Krankheitserscheinungen, um dann das Kind in ärztliche Obhut zu geben und jede Kenntnis von der Ursache des Problems zu leugnen. Fachärzte gehen davon aus, dass diese Frauen im Grunde ihrem Kind gar nicht wehtun wollen, sondern indirekt in die Rolle des Kranken schlüpfen - um des Mitgefühls willen, mit dem die behandelnden Ärzte der Mutter des kranken Kindes begegnen.«
»Wow«, bemerkt Metz. »Lassen Sie uns noch einmal rekapitulieren: Sie sagen also, dass die Mutter ihr eigenes Kind krank macht, nur um Aufmerksamkeit zu erregen?«
»Darauf läuft es hinaus, Mr. Metz. Ein krankes Kind ist für eine Mutter der einfachste Weg, Mitgefühl zu erregen. Manche Mütter kontaminieren darüber hinaus Urinproben mit Blut, beschädigen Infusionsschläuche oder provozieren bei Neugeborenen Erstickungsanfälle. Das Münchhausen-Syndrom wird als Kindesmissbrauch behandelt. Die Todesrate liegt bei neun Prozent.«
»Diese Mütter töten ihre Kinder?«
»Manchmal«, bestätigt Birch. »Wenn man sie nicht aufhält.«
»Könnten Sie uns einige Krankheiten nennen, die diese Mütter bei ihren Kindern hervorrufen?«
»In vierundvierzig Prozent der Fälle treten Blutungen auf. Bei weiteren zweiundvierzig Prozent Anfälle. Gefolgt von Störungen des zentralen Nervensystems, Atemstillstand und Magen-Darm-Erkrankungen. Ganz zu schweigen von den psychischen Symptomen.«
»Und was kann dieses Syndrom bei einer Mutter auslösen?«
Der Doktor setzt sich bequemer hin. »Vergessen Sie nicht, dass neunundneunzig Prozent aller Mütter nicht gefährdet sind. Man erkrankt nicht wie beispielsweise an einem Grippevirus. Diese Frauen sind geistig gestört. Oft sind die Auslöser Stressfaktoren wie eine Ehekrise oder Scheidung. Es kommt auch vor, dass ehemalige Opfer zu Tätern werden, und in vielen Fällen besteht auch ein Bezug zu Ärztekreisen, sodass entsprechende Kenntnisse vorhanden sind. Sie brauchen… nein sie haben ein Bedürfnis nach Unterstützung und Aufmerksamkeit. Für sie ist krank zu sein ein Vehikel, um geliebt und umsorgt zu werden.«
»Sie sagten, man könnte bei Kindern auch psychische Symptome auslösen. Könnten Sie das näher erläutern?«
»Mit Symptomen meine ich Halluzinationen oder Sinnestäuschungen, Gedächtnisverlust oder Amnesie. Mitunter sogar Konversionen wie Pseudoblindheit. Es ist schwer nachvollziehbar, wie eine Mutter diese Symptome bei ihrem Kind >vortäuschen< kann, aber in der Regel geht es wohl so vor sich, dass die Mutter negatives Verhalten selektiv bestärkt. Beispielsweise kann sie übertrieben liebevoll reagieren, wenn ein Kind von einem Albtraum erzählt, und das Kind andererseits ignorieren oder ihm wehtun, wenn es sich völlig normal verhält. Irgendwann lernt das Kind dann, sich so zu verhalten, wie die Mutter es von ihm erwartet.«
»Spielt es eine Rolle, ob das Kind bei einem alleinerziehenden Elternteil lebt?«
»Absolut«, entgegnet Birch. »Dadurch ist es ja einer einseitigen,
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