Die Wahrheit der letzten Stunde
diese Diagnose für die wahrscheinlichste halten.«
Joan blickt auf ihre Notizen. »Haben Sie je von einer psychischen Störung namens >Somatisierung< gehört?«
»Oft.«
»Dann kommt es viel häufiger vor als das Münchhausen-Syndrom?«
»Das ist richtig.«
»Stimmt es nicht, dass Menschen, die an einer psychosomatischen Störung leiden, oft große Ähnlichkeit mit Münchhausen-Opfern aufweisen?«
»Ja. In beiden Fällen sind die Symptome nicht organischen Ursprungs - beim Münchhausen-Syndrom, weil sie vorgetäuscht oder künstlich herbeigeführt werden, und bei der Somatisierung, weil sie psychisch bedingt sind.«
»Ich verstehe. Und wie geht man vor, um eine psychosomatische Störung zu diagnostizieren, Doktor?«
»Man unterhält sich mit den Eltern und dem Kind. Und man veranlasst zahlreiche medizinische Tests.«
»Also die gleiche Strategie, die Sie bei Verdacht auf Münchhausen-Syndrom anwenden würden, richtig?«
»Ja. Wobei beim Münchhausen-Syndrom die Beschwerden abklingen, wenn das Kind von dem Elternteil getrennt wird, der ihn krank macht. Leidet ein Kind hingegen an einer psychosomatischer Störung, bessert sich sein Zustand nicht.«
Joan lächelt. »Darf ich bitte vortreten?« Richter Rothbottam winkt die beiden Anwälte heran. »Euer Ehren, würden Sie mir an dieser Stelle etwas Freiraum gewähren? Ich würde gerne ein lebendes Beweisstück vorführen.«
Metz mustert sie stirnrunzelnd. »Was haben Sie denn angeschleppt? Ein Huhn?«
»Das werden Sie gleich sehen. Euer Ehren, es gibt wirklich keinen anderen Weg, meine Argumente wirklich glaubhaft zu machen.«
»Mr. Metz?«, fragt der Richter.
»Warum nicht? Ich bin heute großzügig.«
Nachdem Rothbottam sein Einverständnis gegebe hat, nickt Joan Kenzie van der Hoven zu, die darauf di Türen am rückwärtigen Ende des Saales ansteuert. Sie ruft einen Gerichtsdiener, der mit Faith an der Hand eintritt.
Faith trägt ein rosafarbenes Kleid, das einen Ton heller ist als Joans Kostüm. Ihr Haar glänzt silbern, und auf ihrem Gesicht liegt ein ansteckendes Lächeln. Als sie näher kommt, winkt sie Mariah zu und scheint die Reporter, die sie mit offenem Mund anstarren, gar nicht zu bemerken. Abgesehen von ihrer Blässe und den Pflastern an Hals und Handrücken deutet nichts darauf hin, dass das Mädchen noch vor wenigen Stunden mit dem Tod gerungen hat.
Malcolm Metz traut seinen Augen kaum. Er wendet sich Colin zu, der plötzlich großes Interesse an seinem Schoß bekundet. »Wussten Sie davon? Haben Sie davon gewusst?«
Aber noch bevor Colin antworten kann, ergreift Joan wieder das Wort. »Dr. Birch, kennen Sie dieses Kind?«
»Ich denke… ich gehe davon aus … dass es sich um Faith White handelt«, antwortet der Zeuge.
»Wann haben Sie sie das letzte Mal gesehen?«
»Am späten Samstagabend. Es sah aus, als würde sie das Wochenende nicht überleben.« Er betrachtet Faith mit sichtlichem Staunen.
»Was für einen Eindruck haben Sie jetzt von ihr?«
Birch lächelt triumphierend. »Es scheint ihr sehr gut zu gehen.«
»Wie erklären Sie sich das?«
Der Psychiater blickt stolz von Malcolm Metz auf Joan. »Offensichtlich lag ich mit meiner Vermutung richtig. Mariah White leidet am Münchhausen-Syndrom. Durch die vom Gericht veranlasste Trennung von der Mutter hat sich Faith’ Zustand drastisch gebessert.« Er deutet auf Faith, die brav neben der Prozesspflegerin sitzt. »Ich kann nur hoffen, dass das Gericht die Mutter auch weiterhin von ihrem Kind fernhalten wird.«
Joan strahlt über das ganze Gesicht. »Doktor«, sagt sie, »ich kann Ihnen gar nicht genug danken.«
Irritiert erklärt Malcolm Metz die Zeugenbefragung der Anklage für abgeschlossen. Er traut Joan Standish nicht über den Weg, aber ganz sicher wird er ihr nicht widersprechen, wenn sie beschließt, ihm in die Hände zu spielen. Als der Richter eine kurze Unterbrechung anordnet, legt er seinem Mandanten eine Hand auf die Schulter. »Gehen wir einen Kaffee trinken«, sagt er. »Es sieht gut aus für uns, meinen Sie nicht?«
»Joan«, sagt Mariah, als sie allein sind in einem kleinen Raum von der Größe einer Hausmeisterloge. »Was haben Sie sich nur dabei gedacht?«
»Vertrauen Sie mir«, entgegnet ihre Anwältin lächelnd.
»Jetzt hat es den Anschein, als hätte ich ihr wehgetan! Warum haben Sie Birch nicht gesagt, dass ich Sonntag bei ihr war?«
»Zum einen, weil man Sie dann sofort einsperren würde.«
Mariah mustert sie aus zusammengekniffenen
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