Die Wahrheit der letzten Stunde
sagen möchte.« Ihre Augen weiten sich erwartungsvoll. »Vor sehr langer Zeit, noch vor deiner Geburt, war ich sehr traurig wegen etwas. Anstatt darüber zu sprechen, wie ich mich fühlte, fing ich an, mich anders zu verhalten. Verrückt. Ich habe etwas getan, das vielen Menschen Angst gemacht hat, und darum brachte man mich an einen Ort, an dem ich nicht sein wollte.«
»Du meinst, so etwas wie ein … Gefängnis?«
»So etwas in der Art. Das spielt jetzt keine Rolle. Ich wollte nur, dass du weißt, dass es völlig in Ordnung ist, traurig zu sein. Ich verstehe das. Du brauchst dich nicht anders zu benehmen, damit ich sehe, dass dich etwas bedrückt.«
Faith’ Kinn bebt. »Ich bin nicht bedrückt. Und ich benehme mich auch nicht anders.«
»Nun ja, du hattest nicht immer eine Beschützerin.«
Die Tränen, die sich in ihren Augen gesammelt haben, quellen über. »Du glaubst, ich hätte sie erfunden, habe ich Recht? So wie Dr. Keller, die anderen Kinder in der Schule und Mrs. Grenaldi. Ihr glaubt, ich würde das nur tun, um mich wichtig zu machen.« Plötzlich holt sie scharf Luft. »Muss ich jetzt an diesen Ort, der wie ein Gefängnis ist?«
»Nein«, versichere ich ihr und drücke sie ganz fest. »Du gehst nirgendwohin. Und ich habe auch nicht gesagt, du hättest es erfunden, Faith, wirklich nicht. Es ist nur, dass ich einmal so traurig war, dass mein Verstand mir etwas vorgegaukelt hat, das nicht wirklich war. Das ist alles, was ich sagen wollte.«
Faith vergräbt das Gesicht an meiner Schulter und schüttelt den Kopf. »Sie ist real. Wirklich!«
Ich schließe die Augen und massiere mir den Nasenrücken gegen die aufsteigenden Kopfschmerzen. Nun, Rom wurde auch nicht an einem Tag erbaut. Ich stehe auf und nehme den leeren Teller vom Tisch, auf dem die Nachmittagsplätzchen gelegen haben. Auf halbem Weg in die Küche zupft Faith an meinem Shirt. »Sie will dir etwas sagen.«
»Ach ja?«
»Sie weiß über Priscilla Bescheid. Und sie verzeiht dir.« Der Teller fällt mir aus der Hand.
Als ich acht Jahre alt war, wünschte ich mir so sehr ein Haustier, dass ich anfing, allerlei Kleintiere, die ich fand - Frösche, Schildkröten und einmal auch ein Eichhörnchen -, ins Haus zu schmuggeln. Die Schildkröte, die irgendwann über die Arbeitsplatte in der Küche krabbelte, gab schließlich den Ausschlag. Um keine Salmonellenvergiftung zu riskieren, brachte meine Mutter eines Tages ein Kätzchen mit nach Hause und nahm mir das Versprechen ab, dafür keine weiteren Tiere mehr von draußen ins Haus zu holen.
Ich nannte das Kätzchen Priscilla nach der Prinzessin in dem Büchereibuch, das mir in dieser Woche am besten gefiel. Sie schlief auf meinem Kopfkissen, den Schwanz über meiner Stirn zusammengerollt wie eine Bibermütze. Ich gab ihr Milch aus meinen Com Flakes zu trinken und steckte sie in Puppenkleider mit Mütze und Baumwollsöckchen.
Eines Tages beschloss ich, sie zu baden. Meine Mutter erklärte mir, dass Katzen Wasser nicht leiden könnten, sich lieber sauberleckten und einen großen Bogen um Wasser machten. Aber sie hatte auch behauptet, Priscilla würde es nicht gefallen, verkleidet und im Puppenwagen herumgefahren zu werden, und in diesem Punkt hatte sie sich auch geirrt. Also füllte ich eines Nachmittags, als ich im Garten spielte, einen Eimer mit Wasser und rief die Katze. Ich wartete, bis meine Mutter außer Sichtweite war, und tauchte Priscilla dann ins Wasser.
Sie wehrte sich. Sie kratzte und wand sich, aber es gelang mir dennoch, sie im Wasser zu halten, überzeugt, dass ich es besser wusste. Ich wusch ihr Fell mit einem Stück Parfumseife, das ich aus dem Badezimmer meiner Eltern stibitzt hatte. Ich achtete sorgfältig darauf, all die Stellen zu schrubben, die meine Mutter mich immer ermahnte, ordentlich zu waschen. Tatsächlich war ich so konzentriert bei der Sache, dass ich vergaß, Priscilla zum Atmen wieder an die Oberfläche zu lassen.
Ich log meiner Mutter vor, sie müsse in den Eimer gefallen sein, und sie glaubte mir, weil ich so furchtbar weinte. Aber noch Jahre später konnte ich die Knochen unter dem schlaffen Fell fühlen. Manchmal spüre ich heute noch ein leichtes Gewicht in der Hand, um das ich im Schlaf die Finger schließe.
Ich habe nie wieder eine Katze gehabt. Und ich habe nie einer Menschenseele davon erzählt.
»Mariah«, sagt meine Mutter und starrt mich verblüfft an. »Warum erzählst du mir das ausgerechnet jetzt?«
Ich werfe einen Blick in Richtung
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