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Die Wahrheit der letzten Stunde

Die Wahrheit der letzten Stunde

Titel: Die Wahrheit der letzten Stunde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jodi Picoult
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Hin und wieder forderte sie Krankenschwestern, Ärzte und Mitpatienten auf, nachzusehen. Als ich an der Reihe war, ging ich so nah ran, dass ich einen flüchtigen Moment ein Pulsieren in einer inneren rosigen Membran wahrnahm. »Hast du sie gesehen?«, fragte sie, und ich nickte, nicht sicher, wer von uns beiden jetzt verrückter wirkte.
    Faith ist in der letzten Zeit ebenso oft in der Schule gewesen wie daheim geblieben und ich habe seit zwei Wochen an keinem meiner Puppenhäuser mehr gearbeitet. Wir verbringen mehr Zeit im Krankenhaus als zu Hause. Inzwischen wissen wir dank eines MRIs, eines Cts und umfangreicher Bluttests, dass sie weder an einem Hirntumor noch an einer Schilddrüsenerkrankung leidet. Dr.
    Keller hat sich im Hinblick auf Faith’ Verhalten mit Kollegen beraten. »Auf der einen Seite«, sagt sie zu mir, »beziehen sich fast alle psychotischen Halluzinationen bei Erwachsenen auf Religion, die Regierung oder den Teufel. Andererseits zeigt Faith keinerlei andere Symptome einer Psychose.« Sie möchte Faith Risperdal verabreichen, ein Antipsychotikum. Wenn die imaginäre Freundin hiernach verschwindet, war es das. Und wenn nicht… Nun, damit werde ich mich befassen, wenn es soweit ist.
    Faith kann nicht mit Gott sprechen, soviel weiß ich. Aber gleich darauf frage ich mich: Warum eigentlich nicht? Es wäre nicht das erste Mal, dass sich etwas physikalisch Unerklärliches ereignet. Und eine gute Mutter steht zu ihrem Kind, ganz gleich, wie bizarr die Geschichten sind, die es erzählt. Andererseits, wenn ich dazu stehe, dass Faith tatsächlich Gott sieht, und leugne, dass sie verrückt ist… Nun, dann werden alle denken, ich sei wahnsinnig. Schon wieder.
    Damit Faith das Risperdal einnimmt, muss ich die Tablette im Mörser zerdrücken und in Schokoladenpudding einrühren, um den Geschmack zu überdecken. Dr. Keller sagt, dass Antipsychotika schnell wirken, anders als Antidepressiva, bei denen man acht Wochen abwarten muss, ehe sich eine Wirkung bemerkbar macht. Bis dahin heißt es abwarten.
    Faith schläft gerade zusammengerollt auf ihrer Tagesdecke mit der kleinen Meerjungfrau. Sie sieht aus wie ein ganz gewöhnliches Kind. Sie muss wissen, dass ich hier bin, denn sie streckt sich, rollt sich herüber und schlägt die Augen auf. Sie sind glasig, mit einem abwesenden Ausdruck vom Risperdal. Sie hat immer Colin ähnlich gesehen, aber in diesem Moment sieht sie aus wie ich.
    Einen Moment denke ich zurück an die Monate, die ich in Greenhaven verbracht habe: wie die Tür hinter mir ins Schloss fiel, wie der Schlüssel sich im Schloss drehte, das Stechen der Beruhigungsspritze an meinem Arm. Ich frage mich, warum Colin, der Krankenhauspsychiater und der Richter für mich gesprochen haben, wo ich doch selbst so viel zu sagen hatte.
    Ich weiß ehrlich nicht, was schlimmer wäre: wenn sich herausstellte, dass Faith geisteskrank ist, oder dass sie es nicht ist.
     
    »Schlafen«, spricht Faith mir nach. »S-C-H-L-A-F-E-N.«
    »Perfekt.« Faith besucht jetzt die zweite Klasse und das heißt, wir müssen buchstabieren üben. »Halten.«
    »H-A-L-T-E-N.«
    Ich lege die Liste auf den Küchentisch. »Alle richtig. Vielleicht solltest du die Klasse unterrichten.«
    »Schon möglich«, entgegnet sie selbstbewusst. »Meine Beschützerin sagt, dass jeder anderen etwas beizubringen hat.«
    Bei diesen Worten erstarre ich förmlich. Faith hat ihren imaginären Spielkameraden seit zwei Tagen nicht mehr erwähnt, und ich dachte schon, das wäre auf das Antipsychotikum zurückzuführen. »Ach ja?« Ich überlege, ob ich vielleicht Dr. Keller über den Pieper erreichen kann. Ob sie aufgrund meiner aussagekräftigen Beobachtungen das Medikament absetzen wird? »Deine Freundin ist also noch da?«
    Faith’ Augen verengen sich, und ich erkenne, dass sie aus einem bestimmten Grund nicht mehr von ihrer Beschützerin gesprochen hat: Sie weiß, dass die sie überhaupt erst in Schwierigkeiten gebracht hat. »Warum willst du das wissen?«
    Ich denke an die Antwort, die Dr. Keller ihr hierauf geben würde: Weil ich dir helfen möchte. Ich denke an das, was meine Mutter antworten würde: Weil ich sie kennen lernen möchte, wenn sie dir so viel bedeutet. Aber zu meiner eigenen Überraschung sind die Worte, die aus meinem Mund kommen meine ureigensten: »Weil ich dich liebe.«
    Es scheint, als wäre Faith von meiner Antwort ebenso geschockt wie ich selbst. »O … Okay.«
    Ich nehme ihre Hände. »Faith, es gibt da etwas, das ich dir

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