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Die Wahrheit der letzten Stunde

Die Wahrheit der letzten Stunde

Titel: Die Wahrheit der letzten Stunde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jodi Picoult
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ihres Gästezimmers, wohin Faith sich zurückgezogen hat, um mit einer Dose voll Knöpfe zu spielen. »Hast du das gewusst?«
    »Was gewusst?«
    »Das von Priscilla. Dass ich sie ertränkt habe.«
    Meine Mutter verdreht die Augen. »Natürlich nicht. Ich habe erst vor fünf Minuten davon erfahren.«
    »Hat Daddy es gewusst?« Ich rechne in Gedanken zurück. Faith war erst zwei, als mein Vater starb; an wie viel konnte sie sich aus dieser Zeit überhaupt erinnern?
    Meine Mutter legt mir eine Hand auf den Arm. »Mariah, geht es dir gut?«
    »Nein, Ma. Mir geht es nicht gut. Ich versuche, dahinterzukommen, wie meine Tochter von einem Geheimnis wissen kann, das ich nie irgendjemandem anvertraut habe. Ich versuche, mir darüber klar zu werden, ob ich einen Rückfall habe, ob Faith den Verstand verliert oder ob …« Ich verstumme abrupt. Ich schäme mich dessen, was ich inzwischen ernsthaft in Betracht ziehe.
    »Was?«
    Ich blicke von meiner Mutter auf den Flur, über den Faith’ Stimme zu mir dringt. Es ist nicht etwas, das ich einfach so aussprechen kann wie eine Mutter, die mit dem mathematischen Talent oder der Rückhand ihres Sprösslings prahlt. Nein, das, was ich zu sagen habe, zieht eine Linie und zwingt mein Gegenüber, sich mit dieser Möglichkeit auseinander zu setzen. »Oder ob Faith vielleicht die Wahrheit sagt«, beende ich den Satz leise.
    »Um Himmels willen!«, ruft meine Mutter ärgerlich aus. »Du hast tatsächlich einen Rückfall.«
    »Warum? Warum ist es so schwer zu akzeptieren, dass Faith möglicherweise mit Gott spricht?«
    »Frag das Moses’ Mutter.«
    Und da geht mir ein Licht auf. »Du glaubst ihr nicht! Deiner eigenen Enkelin!«
    Meine Mutter wirft einen vorsichtigen Blick den Flur hinunter, um sicher zu gehen, dass Faith noch beschäftigt ist. »Würdest du bitte leiser sprechen!«, zischt sie. »Ich habe nicht gesagt, dass ich Faith nicht glaube. Ich erlaube mir nur kein Urteil.«
    »Du hast an mich geglaubt. Sogar, als ich versucht habe, mir das Leben zu nehmen, als Colin und ein Richter und der gesamte Stab von Greenhaven sagten, ich müsse stationär behandelt werden, hast du zu mir gehalten.«
    »Das war etwas anderes. Das war ein einzelner Zwischenfall, und ich wollte um jeden Preis das Gegenteil dessen tun, was Colin für das Richtige hielt.« Sie hebt in einer resignierten Geste die Hände. »Es werden heute noch Menschen im Namen der Religion getötet, Mariah.«
    »Dann wäre es also etwas anderes, wenn sie Abraham Lincoln oder Kleopatra sehen würde, ja? Gott ist kein Schimpfwort, Ma.«
    »Trotzdem«, entgegnet meine Mutter. »Es könnte ebenso gut eins sein.«
     
    23. September 1999
     
    Am Nachmittag kommt die Post: die Telefonrechnung, die Stromrechnung und das Scheidungsurteil.
    Der Umschlag sieht hochoffiziell aus, er enthält sichtbar einen dicken Packen Unterlagen und trägt den Stempel des Gerichts von Grafton County. Ich schlitze ihn mit dem Daumen auf und schneide mir an dem scharfkantigen Papier im Inneren die Fingerkuppe auf. Einfach so, innerhalb von nur sechs Wochen, ist meine Ehe vorbei. Ich denke an Traditionen anderer Länder, von denen ich gehört habe: Indianer lassen einen Männerschuh draußen vor dem Tipi stehen, Araber wiederholen dreimal »Ich sage mich von dir los«, und plötzlich kommen diese Bräuche mir gar nicht mehr so albern vor. Ich versuche, mir Colin und seinen Anwalt vorzustellen, die vor einem Richter stehen bei einem Termin, von dem ich nicht einmal etwas wusste. Ich frage mich, ob ich die Unterlagen in meinem Safe aufbewahren soll, neben der Heiratsurkunde und meinem Pass, aber es ist schwer vorstellbar, dass so viele Jahre in einem so kleinen Fach Platz haben sollen.
    Plötzlich kommt es mir vor, als wäre mein Herz viel zu groß für meine Brust. Jahrelang habe ich das getan, was Colin von mir erwartete. Ich habe mich benommen wie Frauen, die ich aus der Feme beobachtet hatte: Ich trug Wollblazer und bedruckte Blusen von Lilly Pulitzer, lud die Kinder seiner Kollegen zu Teepartys ein, schmückte an Weihnachten den Kaminsims mit Girlanden. Ich verwandelte mich in eine Hülle, auf die er stolz sein konnte. Ich war seine Ehefrau, und wenn ich das nicht mehr bin, weiß ich nicht, was ich sonst sein soll.
    Ich versuche, mir Colin in seinem College-Footballtrikot vorzustellen. Ich versuche, die Erinnerung daran hervorzukramen, wie er bei unserer Hochzeit meine Hand genommen hat. Ich gebe mir wirklich Mühe, aber es will mir einfach nicht

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