Die Wahrheit der letzten Stunde
er/sie diese Angelegenheit lösen möge, und zwar schnell. Sie zieht Faith auf die Füße, nimmt ihre Hand, die bereits in einem Fäustling steckt, und führt sie aus dem Büro. »Weißt du was? Vielleicht kannst du morgen einmal zu Hause bleiben. Wir könnten etwas zusammen unternehmen, du und ich, den ganzen Tag.«
Faith blickt zu ihrer Mutter auf. »Ehrlich?«
Mariah nickt. »Ich habe auch manchmal zusammen mit Großmama einen Tag blau gemacht.« Sie beißt die Zähne zusammen bei der Erinnerung daran, wie ihre Mutter diese Tage genannt hatte: Normalitätstage.
Sie fahren durch die gewundenen Straßen von New Canaan, und langsam, nach und nach, beginnt Faith, Mariah zu erzählen, was sich in der Schule zugetragen hat. Als sie in ihre Zufahrt einbiegt, macht sie kurz Halt, kurbelt ihre Fensterscheibe herunter und nimmt die Post aus dem Briefkasten. Erst da bemerkt sie die vielen Autos am Straßenrand. Wanderer oder Vogelkundler, die über die Felder entlang der Straße marschieren. Es kommt öfter vor, dass sie sich hier einfinden. Sie fährt weiter, und dann sieht sie die Menschen, die ihr Haus umringen.
Vor dem Haus stehen Lieferwagen und Autos und sogar ein großes, grell bemaltes Wohnmobil.
»Wow«, haucht Faith. »Was ist denn hier los?«
»Keine Ahnung«, antwortet Mariah angespannt. Sie stellt den Motor ab, steigt aus und ist sofort von einer Gruppe von fast zwanzig Personen umringt. Sofort flammen Blitzlichter auf, und Fragen werden auf sie abgeschossen wie Speere. »Ist das Ihre Tochter im Wagen?« -»Ist Gott bei ihr?« - »Können Sie Gott auch sehen?«
Als Faith’ Tür sich einen Spalt breit öffnet, verstummen die Fragen. Mariah sieht zu, wie ihre Tochter aus dem Wagen steigt und dann nervös auf dem gepflasterten Weg stehen bleibt, der zum Haus führt. Der Weg wird von einem Dutzend Männer und Frauen in wallenden Gewändern gesäumt, die den Kopf neigen, als Faith sie ansieht. Dahinter und etwas abseits steht ein Mann, der einen Zigarillo raucht. Das Gesicht kommt Mariah bekannt vor. Plötzlich fällt ihr ein, woher sie ihn kennt: aus dem Fernsehen. An ihrem Holzapfelbaum lehnt Ian Fletcher persönlich.
Und da weiß Mairah plötzlich, was vor sich geht. Irgendwie, auf verschlungenen Wegen, haben diese Menschen von Faith gehört. Mit einem flauen Gefühl in der Magengegend legt sie einen Arm um ihre Tochter und führt sie zur Veranda. Sie schiebt Faith ins Haus und schließt die Tür hinter ihnen ab.
»Was machen diese Leute hier?« Faith wirft einen Blick durch die schmale Glasscheibe neben der Tür und wird von ihrer Mutter dort weggezogen, bevor jemand sie sehen kann.
Mariah massiert sich die Schläfen. »Geh auf dein Zimmer. Mach deine Hausaufgaben.«
»Ich habe keine.«
»Dann denk dir welche aus!«, erwidert Mariah schroff. Sie geht in die Küche und nimmt den Telefonhörer ab, ihre Kehle ist bereits verengt von aufsteigenden Tränen. Sie muss die Polizei rufen, aber zuerst wählt sie eine andere Nummer. Als ihre Mutter beim zweiten Klingeln abnimmt, entfährt Mariah das erste Schluchzen. »Bitte komm sofort her«, sagt sie und legt auf.
Sie setzt sich, die Hände flach auf der Resopaloberfläche, an den Küchentisch. Sie zählt bis zehn. Sie denkt an die Milch, die Pfirsiche und den Broccoli hinten im Wagen, die bereits anfangen zu verderben.
Ian Fletcher ist sehr gut in seinem Job. Er ist skrupellos, er ist engagiert, er ist engstirnig. Also heftet er den Blick auf das kleine Mädchen, Gegenstand seiner nächsten Sendung, und beobachtet, wie es aus dem Wagen steigt.
Aber dann erregt die Frau an der Seite von Faith White seine Aufmerksamkeit. Die Angst auf ihrem Gesicht, ihre unbewusste Anmut, die instinktive schützende Geste, als sie den Arm um ihre Tochter legt - das alles zieht Ians Blicke auf sich. Sie ist klein und zierlich, und ihr Haar hat einen satten Goldton. Es ist aus dem Gesicht zurückgekämmt, das blass und ungeschminkt ist und möglicherweise das natürlichste und hübscheste, das Ian gesehen hat seit den Wasserfällen in Südamerika. Sie ist nicht im klassischen Sinne schön, nicht perfekt, aber irgendwie macht sie das nur umso interessanter. Ian schüttelt den Kopf, um seine Gedanken zu klären. Er verkehrt mit Models und Filmstars - er sollte sich nicht beeindrucken lassen von einer Frau mit dem Gesicht eines Engels.
Eines Engels? Allein der Gedanke ist verräterisch, lächerlich. Das macht der verdammte Winnebago, sagt er sich. Dass er die Nächte auf
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