Die Wahrheit der letzten Stunde
immer schlechte Nachrichten zu verkünden, wenn sie einen auffordern, sich zu setzen. Wäre mit Faith alles in Ordnung, hätte er mir das ohne großes Aufhebens in ihrem Zimmer mitgeteilt. Er wird mir eröffnen, dass Faith Krebs hat, dass sie noch drei Wochen zu leben hat, dass es irgendwie meine Schuld ist. Wenn ich eine kompetentere Mutter gewesen wäre, wäre mir viel früher etwas aufgefallen - ein Knoten hinter dem Ohr, eine schlecht heilende Schnittwunde am Knie.
»Mariah, darf ich mitkommen?«, fragt Ian leise.
Er blickt den Flur hinunter, dem Arzt hinterher, und schaut dann wieder mich an. Er stellt tausend Fragen, erwischt mich in meinem schwächsten Moment, und doch bietet er mir gleichzeitig seinen Arm an, um mich zu stützen, sodass meine Beine sich nicht mehr ganz so wacklig anfühlen. Er sollte bei diesem Gespräch nicht dabei sein - und doch war er bei Faith, als es passierte, er hat bereits alles gesehen, was es zu sehen gibt. Mein Bedürfnis nach einer körperlichen wie moralischen Stütze ist starker als die Vernunft. »Also gut«, murmele ich benommen, und gemeinsam setzen wir uns in Bewegung.
Ian an meiner Seite hantiert mit etwas herum, aber ich sehe nicht hin. Wenn es ein Kassettenrecorder oder ein Notizblock ist, will ich es nicht wissen. Es kostet mich große Anstrengung, den Blick geradeaus gerichtet zu halten, aber als Dr. Blumberg Ian bittet, ihm seinen Kugelschreiber zu borgen, horche ich auf. Er nimmt ein in Plastikfolie eingewickeltes Päckchen aus seiner Tasche. »Sehen Sie dieses Teilchen?«
Es handelt sich um ein Gebäck mit Käse-Kirschfüllung. Dr. Blumberg nimmt Ians Kugelschreiber und spießt das Teilchen auf, durch die Plastikhülle hindurch, sodass er auf der anderen Seite wieder zum Vorschein kommt. »Das ist ein ziemlich gutes Beispiel für ein Penetrationstrauma. Eine Punktionswunde.«
Er gibt Ian seinen klebrigen, verschmierten Kugelschreiber zurück und deutet auf das Loch in dem Teilchen. »Sehen Sie die Ränder des Lochs? Sehen Sie, wie die Käsefüllung in die Lage Kirschen läuft? Und auch die Kirschfüllung verläuft. Eine Penetrationswunde an einer Hand zerreißt und verformt Gewebe. An den Wundrändern ist die Haut eingerissen und in die Wunde hineingedrückt. Blutgerinnsel und Gewebsfetzen aus den umliegenden beschädigten Partien verstopfen das Loch. In den meisten Fällen stoßen wir auch auf Hämatome und Knochensplitter.« Dr. Blumberg sieht mich an. »Die Wunden ihrer Tochter wiesen keine dieser Charakteristiken auf.«
»Vielleicht war es kein … Penetrationstrauma«, entgegne ich.
»Nun, ganz zweifellos handelt es sich um Penetrationswunden. Das Loch führt jeweils mitten durch die Hand. Das Ungewöhnliche daran ist, dass die Wundkanäle >sauber< sind. Auf den Röntgenbildern - sie liegen in meinem Büro - sind ganz gleichmäßige schmale kleine Kanäle zu erkennen, die durch Gewebe und Knochen führen … ohne jede Spur eines Traumas.«
Jetzt verstehe ich gar nichts mehr. »Und ist das gut?«
»Es ist unerklärlich, Mrs. White. Wie Sie wissen, habe ich die vergangenen zwei Tage darauf verwandt, Kollegen zu konsultieren. Wir sind uns alle einig: Es ist unmöglich, dass ein Gegenstand auf einer Handfläche eindringt und auf dem Handrücken wieder austritt, ohne erheblichen Schaden anzurichten oder zumindest geringfügig Gewebe zu zerreißen.«
»Aber sie hat doch geblutet. Sie ist deswegen ohnmächtig geworden.«
»Das weiß ich«, sagt Dr. Blumberg. »Und doch haben ihre Hände nur wenig geblutet. Bei einer gewaltsamen Penetration durch einen Fremdkörper hätte das anders ausgesehen. So wie die Dinge stehen, war der Blutverlust nicht ausreichend, um eine Ohnmacht herbeizuführen. Die Wunden Ihrer Tochter verhalten sich wie Punktionen … sehen aber nicht so aus.«
»Ich verstehe nicht, was das alles bedeuten soll.«
»Haben Sie schon einmal etwas von Menschen gehört, die nach einer Kopfverletzung plötzlich fließend Japanisch oder Französisch sprechen?«, fragt der Arzt. »Sie schlagen sich den Kopf an einem Telegrafenmast an, und aus einem unerfindlichen Grund verstehen sie plötzlich eine Sprache, die sie vorher nicht beherrschten. Das ist zwar kein alltägliches Phänomen, aber es kommt vor. Medizinisch ist es sehr schwer zu erklären.« Er holt tief Luft. »Nach gründlicher Überlegung haben mehrere Spezialisten einschließlich meiner selbst die Frage erhoben, ob die Wunden an Faith’ Händen tatsächlich durch äußere Einwirkung
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