Die Wahrheit der letzten Stunde
oder von innen heraus entstanden sind.«
Fletcher an meiner Seite pfeift leise durch die Zähne. »Damit bescheinigen Sie in diesem Fall authentische Stigmata.«
»Ich möchte an diesem Punkt noch keine endgültige dahingehend lautende Diagnose stellen«, erwidert der Arzt hitzig, derweil ich frage: »Stigmata?«
Dr. Blumberg zögert, sichtlich verlegen. »Wie Sie wissen, handelt es sich bei Stigmata um ein Auftreten der Kreuzigungswunden Christi bei anderen Personen, Mrs. White, medizinisch unerklärliche Fälle, in denen Menschen ohne ersichtlichen Grund an Händen, Füßen und aus einer Wunde an der Seite bluten. Manchmal gehen sie mit religiöser Ekstase einher. Manchmal tauchen diese Wunden in Abständen auf und verschwinden wieder, manchmal sind sie chronisch. Fast immer werden sie als schmerzhaft empfunden. Es gibt mehrere belegte historische Fälle, bei denen Ärzte eine solche Diagnose gefällt haben.«
»Sie wollen mir erzählen, dass meine Tochter… Nein!« Faith befindet sich in keiner religiösen Ekstase, was immer das auch sein mag. Und warum sollte sie Kreuzigungswunden haben, wo sie doch noch nicht einmal weiß, was eine Kreuzigung überhaupt ist? Ich ziehe abwehrend die Schultern hoch. »Diese belegten historischen Fälle… von wann datieren sie?«
»Aus früheren Jahrhunderten«, gibt Dr. Blumberg zu.
»Wir haben neunzehnhundertneunundneunzig. So etwas geschieht heute nicht mehr. Solche Phänomene werden geröntgt, mit modernster Technik untersucht und wissenschaftlich als Betrug entlarvt.« Ich wende mich Ian Fletcher zu. »Ist es nicht so?«
Aber ausnahmsweise einmal schweigt er.
»Ich möchte ihre Hände sehen«, erkläre ich. Dr. Blumberg hat keine Einwände. Er erhebt sich und gemeinsam gehen wir zurück zu Faith’ Krankenhauszimmer. »Liebes«, sage ich mit gespielter Unbekümmertheit, als ich ihm durch die Schwingtür folge. »Der Doktor möchte dich untersuchen.«
»Darf ich dann nach Hause?«
»Mal sehen.« Ich bleibe an Dr. Blumbergs Seite, als er die dicken Verbände abnimmt. Sie wurden täglich gewechselt, aber nach Faith’ Szene in der Notaufnahme ist das medizinische Personal sehr darauf bedacht, zu vermeiden, dass sie die Wunden zu sehen bekommt. Der Doktor zupft vorsichtig mit einer Zange an den Gazetupfern, knipst die Nachttischlampe an und positioniert sich derart, dass er Faith die Sicht versperrt. Er schält die letzte Lage von Faith’ rechter Hand.
Das Loch hat einen Durchmesser von nur wenigen Millimetern, aber es ist da. Die Haut an den Wundrändern ist lila verfärbt, strahlenförmige Linien geronnenen Blutes führen vom Inneren der Wunde nach außen. Faith krümmt die Finger, und ich kann flüchtig ein stecknadelkopfgroßes Pünktchen Knochen durch das Rot schimmern sehen. Aber die Wunde fängt nicht wieder an zu bluten.
Dr. Blumberg drückt vorsichtig auf die Handfläche rund um das Loch. Hier und da zuckt Faith zusammen, und einmal beugt der Doktor sich ungewollt so weit zur Seite, dass Faith einen Blick auf ihre Hand erhascht. Sie hebt sie vor das Gesicht und betrachtet neugierig das winzige Loch, durch das Licht hindurchfällt. Wir Erwachsenen halten die Luft an.
Dann fängt sie an zu schreien.
Dr. Blumberg klingelt nach einer Krankenschwester, und Ian Fletcher und meine Mutter versuchen, die tobende Faith festzuhalten. »Faith«, sage ich beruhigend. »Es ist alles gut. Der Doktor macht dich wieder gesund.«
»Mami, ich habe ein Loch in meiner Hand!«, kreischt sie. Eine Schwester kommt hereingelaufen, in der Hand ein Styroportablett mit einer Spritze. Dr. Blumberg packt entschlossen Faith’ Arm und sticht die Nadel in ihren Oberarm. Nach kurzer Zeit hört die Gegenwehr auf, und sie erschlafft.
»Das tut mir sehr leid«, murmelt Dr. Blumberg betroffen. »Ich denke, wir sollten sie noch hierbehalten. Ich würde dazu raten, einen Psychologen hinzuzuziehen.«
»Sie halten sie für verrückt?«, frage ich mit hysterisch erhobener Stimme. »Sie haben ihre Hand gesehen. Sie denkt sich das alles nicht aus.«
»Ich habe nicht behauptet, sie wäre verrückt. Es ist nur so, dass der Geist große Macht über uns besitzt. Er kann einen Menschen ebenso leicht krank machen wie ein Virus. Und ehrlich gesagt ist mir die Vorgehensweise in einer solchen Situation nicht geläufig. Ich weiß auch nicht, ob der Verstand in der Lage ist, blutende Wunden zu verursachen.«
Tränen schießen mir in die Augen. »Sie ist sieben Jahre alt. Warum sollte sie so etwas
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