Die Wahrheit der letzten Stunde
Enkelin zu bekehren …«
»Natürlich nicht! Sie glauben, es wäre schon zur Hälfte geschehen, nachdem ihre Hände angefangen haben zu bluten. Stigmata, Heilige Muttergottes!«
Ich verdrehe die Augen und nehme den Priester beim Ellbogen. »Ma, würdest du bitte bei Faith bleiben und ihr mit den Jell-Os helfen?«
»In Ordnung«, sagt meine Mutter. »Und du sieh zu, dass du ihn loswirst.«
Sobald Vater MacReady und ich draußen auf dem Flur sind, entschuldige ich mich für das Benehmen meiner Mutter. »Es tut mir sehr leid, Vater. Meine Mutter nimmt die ganze Sache ziemlich schwer.«
»Und Sie?«
»Ich bin noch vollauf damit beschäftigt, mich mit der Vorstellung anzufreunden, dass Faith tatsächlich mit Gott spricht. Dass es noch weiter gehen soll als das… Ehrlich gesagt will mir das nicht in den Kopf.«
Vater MacReady lächelt. »Stigmata — sofern es sich tatsächlich darum handelt - sind ein Geschenk.«
»Was soll denn das für ein Geschenk sein, bitte schön. Sie bereiten einem ständig Schmerzen und machen einen zur Kuriosität. Ich weiß, dass Stigmata nicht umsonst von dem Begriff Stigma abgeleitet ist.«
»Millionen von Menschen würden sagen, dass Ihre Tochter gesegnet ist.«
»Sie ist aber nicht dieser Meinung.« Ich schäme mich, dass meine Stimme zittert. »Wissen Sie, dass sie sich dunkle Handschuhe angezogen hat, als es anfing? Sie hat sich zu sehr geschämt, um mir zu zeigen, dass sie blutet.«
Das scheint Vater MacReady zu interessieren. »Soweit ich weiß - und leider weiß ich über Stigmata nicht viel -, verstecken die Menschen, bei denen diese Male auftreten, diese vor der Welt.«
Nach kurzem Schweigen unterbreche ich meine ruhelose Wanderung. Wir haben das Ende der Kinderstation erreicht und befinden uns jetzt auf der Säuglingsstation, wo ich schon mit Ian Fletcher gestanden habe. »Ich muss Ihnen etwas beichten.«
»Irgendwie scheine ich dieses Bedürfnis bei den Menschen auszulösen.«
»Ich habe einmal eine Beichte belauscht.«
»Eine Beichte über die Beichte?« Vater MacReady lacht.
»Ich war erst zehn. Ich wollte wissen, was es damit auf sich hat. Ich selbst habe mich nicht getraut, den Beichtstuhl zu betreten. Ich dachte, es würde eine Art Alarm ausgelöst werden, weil ich ja keine Katholikin war.«
»Aber nicht doch, die Protestanten sind diejenigen, die sich moderner Technologie bedienen.« Lächelnd lehnt er sich an die Wand. »Ehrlich gesagt habe ich immer große Achtung vor den Juden gehabt, weil sie keine Beichte kennen. Das können Sie gern Ihrer Mutter weitererzählen.«
»Vielleicht tue ich das sogar.«
»Sehen Sie, ein katholischer Sünder beichtet, spricht ein paar Gebete und ist von der Schande reingewaschen. Mir scheint, die Juden würden dagegen ihre Schuld wie Kamele ein Leben lang mit sich herumschleppen. Was meinen Sie, welche dieser beiden Traditionen die abschreckendere Wirkung hat?« Ernüchtert dreht Vater MacReady sich um. »Ich weiß nicht, ob Gott zu Faith spricht, Mrs. White. Ich würde es aber gerne glauben. Es interessiert mich nicht, was andere Geistliche sagen; ich habe nie geglaubt, dass der Geist der Religion entspringt. Er kommt tief aus unserem Innersten und führt dazu, dass wir andere Menschen anziehen. Und Ihre Tochter besitzt viel von diesem Geist.
Okay, es ist nicht der Tag des Jüngsten Gerichts. Vor dem Rasen beim Rathaus wartet kein Flammenmeer. Kein Buch des Lebens mit einer Liste von Namen. Sie ist also eine kleine Jüdin mit Wunden, bei denen es sich um Stigmata handeln könnte, und sie sieht einen weiblichen Gott. Ich muss Ihnen sagen, dass ich persönlich - auch wenn meine Vorgesetzten mir diesbezüglich sicher widersprechen würden - daran nichts Schockierendes finde. Vielleicht ist das Gottes Vorstellung eines Hauptgewinns - ein Weg, zu erreichen, dass viele verschiedene Persönlichkeiten ihn anbeten. Oder überhaupt an ihn glauben.«
»Aber sie wurde nicht gefragt«, gebe ich zu bedenken. »Sie ist niemandes Erlöser und auch niemandes Märtyrer. Sie ist nur ein verängstigtes kleines Mädchen.«
Vater MacReady mustert mich lange schweigend. »Sie ist auch Gottes Kind, Mariah.«
Ich verschränke die Arme, um ihr Zittern zu verbergen. »Sie wissen, dass Sie in diesem Punkt Unrecht haben.«
Vater MacReady verschließt die Tür zwischen Pfarrei und seinen Privaträumen. Langsam geht er in die Küche, setzt sich an den verkratzten Tisch und sieht zu, wie Staub in einem schräg hereinfallenden Sonnenstrahl
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