Die Wahrheit der letzten Stunde
umhertanzt. Nach kurzer Überlegung steht er auf und holt eine Flasche Sam Adams aus dem Kühlschrank. Er trinkt nicht viel, aber er hat das Bedürfnis, sich das Bier, das er gewöhnlich zum Abendessen trinkt, besser jetzt schon, mitten am Nachmittag, zu genehmigen.
Das Problem ist, dass Vater MacReady Mariah White ehrlich und aufrichtig gern hat.
Aber auch seine Kirche liebt er ehrlich und aufrichtig.
»Ich tue ihnen das nicht an«, murmelt er vor sich hin. »Ich tue es für alle anderen.« Darauf leert er die Flasche.
In den zehn Jahren seit seiner Priesterweihe hat er in zwei Fällen Menschen mit Visionen beraten. Das erste Mal in Vietnam; ein Soldat hatte behauptet, die Jungfrau Maria wäre ihm im Dschungel erschienen. Der zweite Fall war viel beunruhigender gewesen: Ein sechzehnjähriges Mädchen aus der Innenstadt hatte behauptet, der Heilige Geist habe sie geschwängert. Damals hatte Vater MacReady die Behörden eingeschaltet, und alle hatten atemlos gewartet, bis das Mädchen schließlich ein ganz normales Baby geboren hatte, dessen DANN zu der des kürzlich eingestellten neuen Chorleiters passte.
Stigmata sind ihm bisher nie untergekommen.
Seufzend nimmt er ein abgewetztes Buch aus einem Regalfach unter dem Telefon und schlägt die Nummer der Kanzlei in Manchester nach.
Auszug aus The Boston Globe vom 17. Oktober 1999:
Mutter des Mädchens, das Gott gesehen hat, »geistig labil«
New Canaan, NH - Wenn man sieht, werden sie kommen. So oder so ähnlich mag das Motto der Siebenjährigen in New Canaan lauten, die angeblich mit Gott in Kontakt steht. Die Frommen und Neugierigen sind in den kleinen Ort in New Hampshire gepilgert, um einen Blick auf das Kind zu erhäschen, das angeblich Wunder vollbringen kann.
Allerdings könnte die Grundlage dieser himmlischen Visionen viel banaler sein, als es den Anschein hat. Aus sicherer Quelle haben wir erfahren, dass die Mutter des Mädchens vor einigen Jahren wegen psychischer Probleme stationär behandelt wurde. Ein Psychiater und ehemaliger Mitarbeiter der privaten psychiatrischen Einrichtung Greenhaven, der anonym bleiben möchte, hat bestätigt, dass Mariah White 1991 vier Monate lang in oben genannter Heilanstalt in Burlington in Vermont behandelt wurde. Die Frage nach der Art ihrer Erkrankung wollte der Psychiater uns allerdings nicht beantworten.
Dr. Josiah Hebert, Vorsitzender der Abteilung Psychiatrie an der Harvard Universität, sagte uns, die meisten psychotischen Halluzinationen bei Erwachsenen hätten einen religiösen Bezug. »Sofern Mrs. White von Gott halluziniert hat, bedeutet das nicht zwangsläufig, dass ihre Tochter das gleiche Krankheitsbild zeigen muss«, sagte Hebert weiter. »Aber in einer normalen Eltern-Kind-Beziehung ist die elterliche Anerkennung ein Schlüsselreiz, und die Verhaltensweisen, mit deren Hilfe das Kind versucht, diese Anerkennung zu erlangen, sind sehr verschiedenartig.« Zu den angeblichen Wundern befragt, die das Mädchen bewirkt haben soll, wollte Dr. Hebert sich nicht weiter äußern und verwies darauf, dass solche Phänomene gegen jede Logik und Wissenschaft verstießen.
Was die Aufregung um die Visionen des Mädchen betrifft, rät Dr. Hebert zur Vorsicht. »Ich denke, man kann nicht ernsthaft den Behauptungen eines Kindes Glauben schenken, ohne die formenden Einflüsse zu untersuchen, die auf dieses Kind gewirkt haben, und die sind im vorliegenden Fall möglicherweise mehr abnormaler als paranormaler Natur.«
Als ich am wenigsten damit rechne, stiehlt sich Rabbi Daniel Solomon durch meine Abwehr.
Wir sind noch nicht lange wieder zu Hause, nachdem Dr. Blumberg Faith am Nachmittag entlassen hat. Ich habe eben Faith ins Bett gebracht und spüle das Geschirr vom Abendessen, als an die Tür geklopft wird. Ich bin derart überrascht, dass es Rabbi Solomon gelungen ist, an allen draußen vorbeizukommen, dass ich ihn hereinlasse, bevor mir so recht bewusst wird, was ich da tue.
Seine Augen sind unruhig, seine Kleidung ist verrutscht, sein langer Pferdeschwanz hat sich teilweise aufgelöst. Und sein Daschiki hat sich um die Taille verdreht. Nervös befingert er eine Kette aus Bernsteinperlen, die er um den Hals trägt. »Entschuldigen Sie«, sagt er. »Mir ist klar, dass das kein günstiger Zeitpunkt ist…«
»Nein, nein«, antworte ich leise und deute auf seine Kleidung. »Das ist das Mindeste, was ich für jemanden tun kann, der einen Spießrutenlauf hinter sich hat.«
Er blickt an sich hinab und
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