Die Wahrheit der letzten Stunde
scheint überrascht vom Zustand seines T-Shirts und seiner Jeans. »Man bezeichnet uns ja nicht umsonst als auserwähltes Volk«, bemerkt er und blickt die Treppe hinauf.
Sofort spannen sich meine Züge an. »Sie schläft.«
»Eigentlich bin ich gekommen, um mit Ihnen zu sprechen. Lesen Sie den Boston Globe?«
»Die Tageszeitung?«, frage ich überflüssigerweise. Ich frage mich, ob er so dreist war, mit der Presse über Faith zu sprechen. Fast wütend reiße ich ihm die Zeitung aus der Hand. Auf Seite vier springt mir eine Überschrift ins Auge: Mutter des Mädchens, das angeblich Gott gesehen hat, »geistig labil«.
Wenn man etwas zu verbergen hat, verwendet man fortan jede Minute darauf, eine Mauer zu errichten, die das Geheimnis mehr und mehr verbirgt. Man überzeugt sich selbst davon, dass die Mauer solide und dick genug ist, und wenn man eines Tages aufwacht und nicht sofort an diese schreckliche Begebenheit denkt, dann räumt man sich selbst die Freiheit ein, so zu tun, als wäre es endgültig vorbei. Und das macht es umso schmerzlicher, wenn so etwas passiert, wenn man erkennen muss, dass die Betonmauer tatsächlich so durchsichtig ist wie Glas und doppelt so zerbrechlich.
Ich lasse mich auf die Treppe sinken. »Warum haben Sie mir das gebracht?«
»Ich wusste, dass Sie es früher oder später zu sehen bekommen würden. Ich dachte, es wäre eine Mizwa, persönlich herzukommen. Ich dachte mir, es wäre für Sie leichter, wenn die schlechte Nachricht von einem Freund überbracht wird.«
Einem Freund? »Ich war in stationärer Behandlung«, höre ich mich zugeben. »Mein Mann hat mich zwangseinweisen lassen, nachdem ich versucht habe, mir das Leben zu nehmen. Aber ich war nicht psychotisch, wie dieser … Idiot Hebert sagt. Und ich habe auch nie von Gott halluziniert. Und schon gar nicht hat Faith irgendwelche Visionen von mir übernommen.«
»Das habe ich auch keine Sekunde vermutet, Mrs. White.«
»Warum sind Sie sich da so sicher?«, frage ich bitter.
Rabbi Solomon zuckt die Achseln. »Es gibt da eine Theorie, der zufolge sechsunddreißig Menschen in jeder Generation wahrhaft tugendhaft sind. Man nennt sie Lamed Vavniks - lamed für >dreißig< und vau für >sechs<. Für gewöhnlich sind es stille Menschen, sanftmütig und manchmal sogar ungebildet, Ihrer kleinen Tochter nicht unähnlich. Sie streben nicht danach, im Vordergrund zu stehen. Die meisten Menschen nehmen sie gar nicht wahr. Aber sie existieren, Mrs. White. Sie sorgen für den Fortbestand der Welt.«
»Und das wissen Sie genau? Und Sie wissen, dass Faith eine von ihnen ist?«
»Ich weiß, dass es die Welt schon sehr lange gibt. Und, ja, ich würde gerne glauben, dass Faith eine dieser Gerechten ist.« Über uns schlägt die Wanduhr. »Sie nicht auch?«
Monsignore Theodore O’Shaughnessy kommt erst am nächsten Abend dazu, Vater MacReady zurückzurufen. Er war damit beschäftigt, einen verwaltungstechnischen Albtraum in seiner Diözese zu beseitigen - er hat die Steuerabgaben von Gemeindeschulen und katholischen Krankenhäusern überprüft, Versicherungsangebote verglichen und besonders viel Zeit auf einen hässlichen Prozess verwandt, bei dem es um einen Priester aus Manchester geht, der im Sommer 1987 mit einer Gruppe kleiner Jungen in einem Ferienlager war. Der Geistliche nimmt auf seinem Lieblingssessel Platz, einem alten Ohrensessel mit einem Bezug aus inzwischen brüchigem braunen Leder, greift nach dem Zettel mit Vater MacReadys Nachricht und wählt seine Nummer.
»Joseph!«, sagt er jovial, als der Priester sich meldet. »Hier spricht Monsignore O’Shaughnessy. Ist lange her, nicht wahr?« Tatsächlich haben sie sich schon eine kleine Ewigkeit nicht mehr gesprochen. Der Monsignore sieht ein Gesicht vor sich, weiß jedoch nicht, ob es zu Vater MacReady aus New Canaan gehört oder zu Vater Mac-Dougal aus New London. »Sie wollten mit mir über eine Kindermission sprechen?«
»Nein«, entgegnet Vater MacReady. »Es geht um eine Vision.«
»Aha. Ich fürchte, Betty wird langsam etwas zu alt für den Sekretärinnenposten. Genau genommen ist sie fast taub, aber ich bringe es nicht übers Herz, ihr zu kündigen. Also… eine Vision, sagen Sie? Vision wie in Erscheinung?« Eine Kindermission - die Errichtung eines Gebäudes für Habitat for Humanity - ist eine Sache, das könnte sogar die schlechte Presse ein wenig wettmachen, die die Diözese zur Zeit wegen des Missbrauchs-Prozesses bekommt. Aber das … Nun, das wird ihrem
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