Die Wahrheit der letzten Stunde
ist.
»Hollywood Tonight! hat erfahren, dass die siebenjährige Wunderheilerin zwischenzeitlich selbst wegen eines mysteriösen und unerklärlichen Leidens stationär im Krankenhaus behandelt wurde.« Jetzt werden Archivbilder von Buntglasfenstern eingeblendet. »Im Laufe der Jahrhunderte hat sich bei christlichen Heiligen die religiöse Ekstase immer wieder durch Stigmata manifestiert, medizinisch nicht erklärbaren Wunden an Händen, Seite und Füßen, die jene widerspiegeln, die Jesus am Kreuz erlitten hat.« Saganoffs Stimme schläfert Colin langsam ein. »Bei einem kleinen Kind aus New Hampshire sind sie nur das letzte Zeichen in einer langen Kette von Beweisen dafür, dass es irgendwie von Gott berührt wurde.«
Petra Saganoff wird wieder gezeigt; sie steht vor einer Steinmauer, entlang derer in Decken und Schlafsäcke gehüllte Menschen mit Blumen, Rosenkränzen und Kameras Aufstellung genommen haben. »Wie Sie sehen, Jim, wächst die Akzeptanz für die an diesem und durch dieses Mädchen bewirkten Wunder stündlich. Inzwischen haben sich bereits über zweihundert Personen hier eingefunden, die von den Visionen und Wundern des kleinen Mädchens gehört haben und hoffen, irgendwie mit ihr in Kontakt treten zu können.«
Die Kamera fährt zurück, und der Anchorman von Hollywood Tonight! wird eingeblendet. »Gibt es schon Neuigkeiten vom aktuellen Gesundheitszustand des Mädchens?«
»Wir wissen, dass sie aus dem Krankenhaus entlassen wurde, Jim. Jetzt bleibt anzuwarten, ob dieser Dreikäsehoch von einem Heiler in der Lage sein wird, sich selbst zu heilen. Petra Saganoff live und vor Ort für Hollywood Tonight!«
Colin setzt sich abrupt auf, als ihm plötzlich aufgeht, was ihm die ganze Zeit so vertraut vorgekommen ist: Petra Saganoff steht am östlichen Ende seiner eigenen Auffahrt.
18. Oktober 1999
»Weißt du was?«, fällt Ian dem völlig verblüfften David ins Wort. »Das interessiert mich einen Scheiß. Ich weiß nur, dass es Ihre Aufgabe gewesen wäre, mich über Neuigkeiten aus dem Boston Globe auf dem Laufenden zu halten, und ich verstehe nicht, wie Sie diese brisante Information übersehen konnten.« Seine Stimme ist mit jedem Wort lauter geworden, sodass der junge David schließlich bis zur schmalen Tür des Winnebago zurückgewichen ist. Ian reißt dem Medienassistenten die Zeitung aus der zitternden Hand, und ein grimmiger Blick genügt, David in die Flucht zu schlagen.
Ian lässt sich auf die unbequeme Couch fallen und überfliegt den Artikel noch einmal, um ganz sicherzugehen, dass er auch nichts übersehen hat. Eigentlich müsste der Artikel ihn euphorisch stimmen: Der Autor stellt unverhohlen Faith’ Glaubwürdigkeit infrage, ohne dass Ian sich die Hände hat schmutzig machen müssen. Allen McManus hat seine Sache besser gemacht, als er erwartet hätte; nicht nur, dass er die Gerichtsakten eingesehen hat, die Mariahs Einweisung in die Psychiatrie belegen, er hat seine Information, derzufolge Mariah tatsächlich in der Nervenheilanstalt war, von einem Psychiater bestätigen lassen. Würde es sich um einen anderen Fall handeln, wäre Ian bereits am Telefon und würde McManus einladen, auf einer kurzfristig einberufenen Pressekonferenz zu sprechen. Er würde noch auf weitere Möglichkeiten aufmerksam machen, die der Reporter benutzen könnte, um die White-Familie ganz allgemein zu diskreditieren.
Stattdessen schließt Ian die Augen, schlägt mit dem Kopf gegen die Wand des Winnebago und versucht, sich zu erinnern, wann er diesen Ball ins Rollen gebracht hat. Ach ja, richtig - nach Millie Epsteins Wiederauferstehung. Beinahe entschuldigt Ian sein Verhalten; das war wirklich starker Tobak. Und um ehrlich zu sein, hat er so etwas in der Vergangenheit schon unzählige Male getan. Er vertritt den Standpunkt, dass man umso mehr Anhänger gewinnt, je mehr Zweifel man sät. Das Problem im vorliegenden Fall ist nicht, dass er den Reporter aktiviert hat, sondern dass er ihn auf Mariah White angesetzt hat.
Teufel noch mal, er mag sie. Er weiß, dass er das nicht sollte; er weiß, dass es sein Urteilsvermögen trübt - und doch ist es eine unumstößliche Tatsache. Eine rein körperliche Anziehung könnte er ignorieren, aber es geht darüber hinaus. Mehr als einmal hat er sich gewünscht, sie wäre nicht in diesen Fall verwickelt, damit sie nicht verletzt wird. Und dieses für ihn so neue und fremde Gefühl jagt ihm eine Heidenangst ein.
Ein Klopfen an der Tür unterbricht seine Gedanken.
Weitere Kostenlose Bücher