Die Wahrheit der letzten Stunde
Ansehen nur noch mehr schaden. »Was für eine Art von Vision?«
»Offenbar erscheint Gott einem siebenjährigen Mädchen aus dem Ort.« Nach kurzem Zögern fügt MacReady hinzu: »Rein technisch gesehen ist sie jüdischen Glaubens.«
»Dann geht uns die Sache nichts an«, entgegnet der Monsignore erleichtert.
»Möglicherweise hat sie Stigmata.«
Monsignore O’Shaughnessy sagt sich, dass das auch so schon eine ziemlich harte Woche war. »Wissen Sie, was ich für Sie tun werde? Ich rufe Bischof Andrews an. Das liegt nun wirklich außerhalb meines Erfahrungsbereiches.«
»Aber…«
»Kein Aber«, sagt der Monsignore in einem Ton, der keinen Widerspruch duldet. »Es war mir ein Vergnügen, mit Ihnen zu plaudern.«
Er legt auf, bevor Vater MacReady ihm eröffnen kann, dass laut Faith White Gott weiblich ist. Joseph atmet seufzend aus, legt den Hörer zurück auf die Gabel und sagt sich, dass es vielleicht gar nicht so falsch war, diese Kleinigkeit unerwähnt zu lassen.
17. Oktober 1999
Was Colin White an Las Vegas am besten gefällt, ist, dass es in dieser Stadt keinen Feierabend gibt. Als Handelsvertreter ist er schon in Washington, Seattle, St. Paul und San Diego gewesen - alles Städte, in denen um Mitternacht die Bordsteine hochgeklappt wurden. Las Vegas hingegen pulsiert rund um die Uhr wie eine Arterie, saugt einen auf, verführt.
Was Colin White an Las Vegas nicht gefällt, ist, dass er in dieser Stadt keinen Schlaf findet. Er weiß nicht, ob es daran liegt, dass die Stadt gleich vor seinem Hotelfenster strahlt, die Neonreklamen der Kasinos so grell, dass es draußen taghell ist. Oder kann er sich nicht daran gewöhnen, dass seine neue Frau sich die ganze Nacht unruhig im Bett herumwälzt? Vielleicht denkt er auch an Faith, daran, wie er sie im Stich gelassen hat und was für einen Vater das aus ihm macht.
Er lässt Jessica im Schlafzimmer zurück und geht hinüber ins angrenzende Wohnzimmer der Suite. Es dauert eine Weile, bis seine Augen sich an die Dunkelheit gewöhnt haben. Auf der Armlehne des Sofas balanciert ein halb aufgegessener Apfel aus dem Begrüßungskorb. Mit einem Seufzer lässt Colin sich in die Kissen sinken, beißt in den Apfel und schaltet mit der Fernbedienung den Fernseher ein.
Es läuft gerade ein Werbespot, der Ferien in New Hampshire anpreist. Colin starrt auf die satten Herbstfarben und das Profil des Mannes in den Bergen, die steilen Skipisten. Von Heimweh gepackt, legt er den Apfel weg und beugt sich vor, die Ellbogen auf den Knien ruhend.
Wenn er nicht sicher wäre, Jessica damit sehr wütend zu machen, würde er die Flitterwochen frühzeitig abbrechen. Er muss noch so viel erledigen, um sein bisheriges Leben abzuschließen, bevor er sich ganz jenem widmen kann, das vor ihm liegt. Er würde sich gerne bei Mariah dafür entschuldigen, für die Tatsache, dass sie einfach nicht füreinander bestimmt waren. Er würde gerne Faith’ Gewicht in den Armen fühlen und den Duft ihres Haares riechen, wenn er sich beim Zudecken über sie beugt. Er würde gern das Wort »Familie« aussprechen können, ohne dass seine Eingeweide sich gleich zu Seemannsknoten winden.
Im Fernsehen wird das Mount Washington Hotel aus der Vogelperspektive gezeigt.
Colin nimmt das Telefon ab und hat schon fast seine vollständige frühere Nummer gewählt, als ihm bewußt wird, dass es in New Hampshire halb fünf Uhr morgens ist. Er legt den Hörer zurück auf die Gabel. Faith wird noch schlafen.
Die vertraute Musik von Hollywood Tonight! Erklingt in dem kleinen Salon. Es passt, dass sie den Mist mitten in der Nacht senden, denkt Colin. Er streckt sich auf der Couch aus und schließt die Augen, um sie einen schmalen Spalt weit wieder zu öffnen, als er die Stimme von Petra Saganoff hört. Er mag ja müde sein, aber er ist nicht tot.
Ihre rauchige Stimme gleitet über ihn hinweg wie eine wärmende Decke, während ein leuchtendblaues Banner den Bildschirm ausfüllt: DIE JÜNGSTE HEILIGE? »Wie Sie sehen«, sagt Saganoff, »befinden wir uns vor Ort, um eine Geschichte weiterzuverfolgen, über die wir bereits in der vergangenen Woche mit dem kleinen Rafael Civernos berichtet haben, einem aidskranken Säugling, der auf wundersame Weise genesen ist, nachdem er in dem Garten hinter mir mit einem kleinen Mädchen gespielt hat.« Colin kneift die Augen zusammen und überlegt, was ihm an Petra Saganoff plötzlich so bekannt vorkommt. Irgendwas ist anders, aber er kommt einfach nicht drauf, was es
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