Die Wahrheit der letzten Stunde
berühmte Bible Beit, Schätzchen. Hier gibt es Gesangsveranstaltungen, bei denen Kirchenlieder zum Besten gegeben werden, und alte Damen, die es Jesus recht machen sollen, aber nur sehr wenige Atheisten. Ich kann mich hier einigermaßen unerkannt bewegen, weil meine Sendung bei diesen frommen Menschen sicher keine sehr hohen Einschaltquoten macht.«
Mariah wölbt eine Braue. »Sie konnten doch nicht sicher wissen, dass diese alte Dame noch nie Ihre Sendung gesehen hat.«
»Ich hätte mein letztes Hemd darauf verwettet.«
Verärgert über seine Selbstsicherheit, verschränkt Mariah die Arme vor der Brust. »Weil sie alt ist? Weil sie Ihr Theater nicht durchschaut hat?«
»Nein, Miss White.« Fletcher beugt sich vor und schaltet den alten Fernseher ein. Schnee. »Weil sie kein Kabelfernsehen hat.«
Als Ian schließlich in Lockwood eintrifft, ist er eine Stunde und siebzehn Minuten zu spät. Mariah und Faith hat er allein in der Hütte zurückgelassen unter dem Vorwand, Lebensmittel einkaufen zu gehen. Jetzt hastet er in den Aufenthaltsraum, in dem er für gewöhnlich Michael antrifft. Er wirft einen Blick durch die Tür, und tatsächlich: Michael sitzt in der üblichen Ecke und dreht eine Karte nach der anderen um.
Seine Erleichterung, dass Michael auf ihn gewartet hat, wird gedämpft von der Erkenntnis, dass er ja nirgendwo hätte hingehen können.
»Hallo.« Ian tritt an den Tisch und zieht einen Stuhl zu sich herüber. Schweiß läuft ihm über die Schläfe, aber noch zieht er die Jacke nicht aus. Er kennt die Routine; erst muss Michael ihn wahrnehmen.
Eine rote Karte. Dann eine schwarze. Ian wischt sich mit dem Kragen den Schweiß von der Schläfe.
»Halb vier«, sagt Michael ausdruckslos.
»Ich weiß, Kumpel. Ich bin eine Stunde und … zwanzig Minuten zu spät.«
»Es ist vier Uhr einundfünfzig und zwanzig Sekunden. Zweiundzwanzig Sekunden. Vierundzwanzig…«
»Ich weiß, wie spät es ist, Michael.« Gereizt zieht Ian seinen Mantel aus.
»Halb vier. Dienstags um halb vier. Da kommt Ian mich besuchen.« Michael fängt an, sich leicht in seinem Stuhl vor und zurück zu wiegen.
»Pssst, Michael. Es tut mir leid. Es wird nicht wieder vorkommen.« Er erkennt die Warnzeichen, bewegt sich sehr langsam und hebt beschwichtigend die Hände.
»Halb vier!«, schreit Michael. »Dienstags um halb vier. Nicht Montag. Nicht Mittwoch Donnerstag Freitag Samstag Sonntag! Dienstag Dienstag Dienstag!« So plötzlich der Anfall gekommen ist, so plötzlich ist er auch wieder vorbei. Er rückt mit seinem Stuhl von Ian ab, ganz in die Ecke des Raumes, die Schultern hochgezogen und über sein Kartenspiel gebeugt.
»Sie haben sich verspätet.«
Ian blickt auf und sieht einen der Psychiater, die täglich nach Lockwood kommen, vor sich stehen. Er lächelt spöttisch. »Darauf wurde ich bereits aufmerksam gemacht.«
»Michael hat eine besondere Begabung dafür, nicht wahr?« Der Doktor lacht. »Hatte Ihr Flug Verspätung?«
»Nein. Ich wurde auf der Fahrt hierher aufgehalten.«
»In seiner Welt ist kein Platz für Fehler. Nehmen Sie es nicht persönlich.«
Ian ruft den Arzt zurück, als dieser sich zum Gehen abwendet. »Was glauben Sie, was passieren würde, wenn ich morgen wiederkäme? Oder in ein paar Tagen?«
»Sie meinen, zu einem anderen Termin als dienstags um halb vier?« Der Psychiater wirft einen Blick auf Michael in seiner Ecke. »Ich denke, das würde einen weiteren Anfall auslösen.«
Ian nickt und wendet den Blick ab. Das hat er auch angenommen. Das heißt, er hat genau sieben Tage Zeit, um Faith White dazu zu bringen, ihn hierher zu begleiten.
Seufzend rückt er seinen Stuhl hinter Michael. Ian kann auf seinen Scheitel blicken, der inzwischen von grauen Strähnen durchzogen ist. Der Anblick deprimiert ihn. Was hat dieser Mann für ein Leben gehabt?
Ein besseres, als es beinahe geworden wäre. Die innere Stimme ist eine Absolution. Lockwood ist ein ärztlich betreutes Pflegeheim, fast so etwas wie eine WG und um Längen besser als eine Anstalt. Eines Tages wird Michael vielleicht sogar allein leben können. Bis dahin ist das hier die beste Unterkunft, die man für Geld kaufen kann.
Müde schaut Ian auf die Uhr und bleibt den Rest seiner Besuchsstunde schweigend auf seinem Platz sitzen, denn auch wenn Michael nicht direkt zu ihm spricht, weiß er sehr wohl, wie lange Ian bleibt. Er beobachtet Michael, der sich wiegt wie ein Metronom, und er fragt sich, wie ein Mann wie er selbst, der für eine
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