Die Wahrheit der letzten Stunde
nicht erst kennen gelernt hätte, ohne sein Interesse an Faith als Riesenstory. Andererseits muss Sie ihm Recht geben. So unsympathisch und rachsüchtig er im Fernsehen auch auftreten mag, privat hat er sich oft als mitfühlend und verständnisvoll erwiesen. Und doch … sich vor der Presse ausgerechnet in Fletchers Haus zu flüchten erscheint ihr wie ein Sprung vom Regen in die Traufe.
Er hat ihr Handgelenk noch nicht wieder losgelassen, und sein Daumen streicht sacht über die Haut entlang der Narbe. »Ich gebe Ihnen mein Wort, dass ich Ihren Aufenthaltsort nicht verraten werde. Und Sie sind ganz für sich.« Dann lächelt er. »Was ist schlimmer, Mariah? Das unbekannte Übel… oder das, das Sie bereits kennen?«
Sie fallen drauf rein. Ian wird fast schwindlig vor Erleichterung, als Mariah zu Faith hinübergeht, um die Planänderung mit ihr zu besprechen. Sie ist noch misstrauisch, aber das ist okay. Soll sie doch denken, er hecke etwas aus. Immerhin stimmt das ja auch. Nur dass es sich um etwas völlig anderes handelt, als Mariah White denkt. Faith dazu zu bringen, ihn freiwillig zu Michael zu begleiten - und ihre Mutter, es zu erlauben -, wird sein ganzes schauspielerisches Talent erfordern.
Als sie mit ihrer Tochter an der Hand zurückkommt, ist Ian wieder einmal beeindruckt von ihren Zügen. Es sind die Widersprüche, die ihn anziehen: die umwerfenden grünen Augen, jetzt gerade verquollen und müde, der weiche Mund, eingefasst von Fältchen, die seelischer Schmerz dort eingegraben hat. »Dann haben Sie also eine Adresse hier«, sagt sie zögernd.
Ian hätte beinahe laut aufgelacht. Er würde nicht in diesem Staat leben, wenn es der letzte Ort auf Erden wäre. »Geben Sie mir eine Stunde, dann habe ich eine.«
Er führt sie zu einer Avis-Autovermietung und mietet ein Auto, für das er mit einer Kreditkarte von Pagan Productions bezahlt. Mariah hält sich derweil im Hintergrund bei den Münzfernsprechern, um nicht von jemandem gesehen zu werden, der sie oder Faith später identifizieren könnte. Als er mit den Wagenschlüsseln zurückkommt, blickt Ian mit grimmigem Gesicht auf die Uhr. In weniger als einer Stunde muss er bei Michael sein.
»Wissen Sie, wo wir hin müssen?« fragt Mariah, als sie auf die Interstate abbiegen.
»Nach Westen. Ich dachte mir, wir sehen uns besser etwas außerhalb um.« Näher bei Lockwood.
»Es sieht aus, als würden Sie sich hier auskennen.«
»Ich habe ziemlich oft hier zu tun«, entgegnet Ian. »In Ozawkie gibt es eine kleine Ferienanlage direkt am Perry Lake. Ich selbst habe zwar nie dort gewohnt, aber ich muss das Schild hundert Mal gesehen haben. Ich dachte, dort könnten wir uns als Erstes umsehen.«
»Können wir schwimmen gehen?«
Ian lächelt Faith im Rückspiegel an. »Ich glaube kaum, dass deine Mami dir erlaubt, bei dieser Kälte im See zu schwimmen. Aber ich denke, gegen etwas Angeln wird sie nicht allzu viel Einwände haben.«
Nach kurzer Fahrt biegen sie von der Interstate ab und durchqueren die Ebenen zwischen Missouri und Kansas. Mariah blickt aus dem Fenster und starrt auf die kürzlich erst abgeernteten Mais-Stoppelfelder. Faith drückt sich an der Fensterscheibe die Nase platt. »Wo sind die Berge?«
»Daheim«, antwortet Mariah leise.
Beim Anblick der schäbigen Hütten von Camp Perry sagt sich Mariah resigniert, dass Bettler eben nicht wählerisch sein können. Sie und Faith hätten sicher eine luxuriösere Unterkunft finden können, aber dort wären sie auch, wie Fletcher ganz richtig bemerkt hatte, leichter aufzuspüren gewesen. Sie beobachtet, wie er zum Büro des Managers geht und anklopft, dann zur Seite tritt und durch das Fenster schaut. »Scheint als …«
»Kann ich Ihnen helfen?«
Eine untersetzte alte Dame mit erstaunlich jugendlicher Ausstrahlung öffnet die Bürotür. »Aber ja, Ma’am, das können Sie«, antwortet Fletcher mit vor Charme triefender Stimme. »Meine Frau und ich möchten eins Ihrer reizenden Etablissements mieten.«
Meine Frau?
»Wir haben den Winter über geschlossen, bedaure«, sagt die Frau.
Fletcher mustert sie eine Weile schweigend. »Eine gute Christin wie Sie ist doch sicher geneigt, zum Wohle des Herrn eine Ausnahme zu machen.«
Mariah verschluckt sich fast an ihrer Zunge. »Mami, warum redet er plötzlich so komisches Zeug?«, fragt Faith aus dem Fond.
Mariah blickt zurück. »Pssst. Das ist nur Schau. Er spielt Theater.«
»Jesus hat mir gesagt, ich soll zum ersten Oktober den Laden
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