Die Wahrheit der letzten Stunde
Bibel keinerlei Verwendung hat, zum Hüter seines Bruders geworden ist, wie es in der Heiligen Schrift steht.
Als Ian zur Hütte zurückkehrt, ist die Sonne untergegangen. Immer noch aufgewühlt von Michaels Ausbruch, folgt er abwesend dem Kiesweg, betritt die Hütte und bleibt wie angewurzelt stehen. Der kleine offene Hauptraum ist von Kerzen erleuchtet, auf dem zerschrammten Tisch liegt eine karierte Tischdecke, und drei saubere Gedecke wurden aufgelegt. Mariah hat ein paar Möbel verrückt, um Wasserflecken auf dem Holzboden sowie verdächtige Flecken an den Wänden zu verdecken. Das Ganze ist zwar noch weit entfernt von dem Komfort, an den er gewöhnt ist, aber der Raum wirkt jetzt fast… behaglich.
Mariah und Faith auf dem Sofa erstarren wie Rehe im grellen Scheinwerferlicht. Nach einigen Sekunden steht Mariah auf und wischt sich die Handflächen an den Hosenbeinen an. »Ich dachte mir, wenn wir uns länger hier aufhalten …« Sie spricht den Satz nicht zu Ende.
Ians Blick fällt auf Faith und das alte Yahtzee-Spiel vor ihr auf dem Couchtisch. Das Mädchen zieht die Knie an, verbirgt das Gesicht und schüttelt die Würfel in der geschlossenen Hand. Am liebsten würde Ian die Schuhe ausziehen, es sich neben ihr bequem machen und die bestrumpften Füße neben die Yahtzee-Becher auf den Tisch legen. Natürlich tut er nichts dergleichen, »…im Wagen?«
Es dauert einen Moment, bis er realisiert, dass Mariah mit ihm gesprochen hat. Was soll im Wagen sein? Er stöhnt auf, als ihm seine Ausrede von vorhin einfällt: die Lebensmitteleinkäufe. »Ich, äh, ich bin noch nicht dazu gekommen«, stammelt er. »Ich fahre gleich los.« Fast fluchtartig verlässt er die Hütte, bevor Mariah ihn fragen kann, wo er die ganze Zeit gesteckt hat, bevor er zusammenbricht und ihr einfach alles erzählt.
Als er losfährt, fängt es an zu regnen. Im Rückspiegel sieht er Mariah in der Tür stehen, eine dunkle Silhouette vor warmem Kerzenschein. Wo hat sie diese Kerzen her? Und dieses Spielbrett? Und das ganze andere Zeug? Ians Hände zittern auf dem Lenkrad, und er versucht, sich zu erinnern, wo der nächste Piggly Wiggly ist. Der Flickenteppich, das alte Spielbrett, die Frau, die auf ihn wartet - das alles kreist unablässig in seinem Kopf. Er zwingt sich, in Gedanken eine Einkaufsliste zu erstellen: Milch und Saft, Eier, Frühstückszerealien, Limonade und Makkaroni, und Artikel für Artikel verdrängt er die Erkenntnis, dass in seinem bisherigen Leben bei allem Luxus ein paar wichtige Dinge gefehlt haben.
Ihre Mutter lässt die besten Stellen aus. Es ist schon schlimm genug, dass Faith keine Gutenachtlektüre hat - entgegen der Meinung ihrer Mutter zählt Reader’s Digest nicht -, ihre Mutter kann sich nicht einmal mehr an Rotkäppchen erinnern, ohne ständig Fehler zu machen. »Der Korb mit den Lebensmitteln«, unterbricht Faith sie wieder einmal. »Für die Großmutter. Weißt du noch?«
Ihre Mutter sieht immer wieder zur Tür. Faith nimmt an, es liegt daran, dass sie Hunger hat. Ian Fletcher sollte eigentlich etwas zum Abendessen mitbringen, aber er lässt auf sich warten, und so hat Faith nur ein paar Tic-Tacs gegessen, die ihre Mutter in ihrer Handtasche gefunden hat. Wenn sie die Augen schließt und die Stimme ihrer Mutter ausblendet, kann sie ihren Magen gurgeln hören wie den Wasserfall am Staudamm von New Canaan.
»Rotkäppchen geht also zur Tür, klopft an, und der böse Wolf…«
»Du hast den bösen Wolf bisher noch gar nicht erwähnt«, beschwert sich Faith. »Er muss erst die Großmutter auffressen.«
»Himmelherrgott, Faith, wenn du es so genau weißt, warum erzählst du dir das Märchen dann nicht einfach selbst?«
Als sie ihr Nachthemd angezogen hat, hat Faith ganz beiläufig erwähnt, sie hoffe, dass Gott sie hier draußen in Kansas finden würde. Ihre Mutter ist zusammengezuckt und hat ihr eingeschärft, dass sie unter keinen Umständen vor Ian Fletcher von Gott sprechen dürfe. Und jetzt will sie ihr nicht einmal eine Gutenachtgeschichte erzählen. Faith rollt sich auf die Seite. Wenn sie jetzt weint, soll es niemand sehen. »Gut«, sagt sie.
Sie fühlt die Hand ihrer Mutter auf ihrem Arm. »Entschuldige. Ich hätte dich nicht so anfahren dürfen.«
»Schon gut.«
»Nein, es war nicht richtig. Ich bin müde und hungrig, aber da kannst du ja nichts für.« Ihre Mutter reibt sich mit den Handballen die Augen und seufzt. »Ich bin einfach nicht in Stimmung für eine Gutenachtgeschichte,
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