Die Wahrheit der letzten Stunde
überhaupt jemand im Haus?«
»Ihre Mutter. Sie hält die Stellung, nehme ich an.« Er macht den Weg frei, damit Joan passieren kann. Sie parkt am Rand der Rasenfläche, steigt die Verandatreppe hinauf und klopft an die Haustür. An der schmalen Scheibe seitlich der Tür erscheint das Gesicht einer älteren Dame, die offenbar überlegt, ob sie öffnen soll oder nicht.
»Ich bin Joan Standish«, ruft sie, »die Anwältin Ihrer Tochter.«
Die Tür schwingt auf. »Millie Epstein. Kommen Sie rein.« Als die Anwältin eintritt, fragt die alte Dame sofort: »Ist ihnen etwas zugestoßen?«
»Wem?«
»Mariah und Faith.« Millie ringt nervös die Hände. »Sie sind nicht hier, wissen Sie.«
»Soweit ich weiß, geht es ihnen gut. Aber ich muss Kontakt zu Ihrer Tochter aufnehmen.« Joan ist ein Profi, wenn es darum geht, in anderer Leute Gesicht zu lesen, und Millie Epstein verheimlicht ganz offensichtlich etwas. »Mrs. Epstein, es ist wirklich ausgesprochen wichtig.«
»Ich weiß nicht, wo sie sind. Ich schwöre es.«
Joan denkt kurz darüber nach. »Aber Sie haben von ihnen gehört«, rät sie.
»Nein.«
»Dann sollten Sie beten, dass Mariah sich bald meldet, ich habe nämlich eine Nachricht für sie. Sagen Sie ihr, dass ihr Ex-Mann das Sorgerecht für ihre gemeinsame Tochter beantragt hat. Und ganz gleich, wie nobel ihre Absichten waren, als sie Faith von hier weggebracht hat, ein Richter wird es so deuten, dass sie versucht hat, sich dem Gesetz zu entziehen, indem sie untergetaucht ist, damit man ihr die Dokumente nicht zustellen kann. Und glauben Sie mir, Mrs. Epstein, so etwas können Richter auf den Tod nicht ausstehen. Je länger sie sich versteckt, desto größer wird die Wahrscheinlichkeit, dass man Colin White das Sorgerecht überträgt.« Das Gesicht der alten Dame ist sehr blass, und sie hat die Lippen zu einem schmalen Strich zusammengepresst. »Sagen Sie ihr, sie soll mich anrufen.« Millie nickt. »Ich werde es ihr ausrichten.«
Lake Perry, Kansas - 24. Oktober 1999
Mariah findet einfach keinen Schlaf. Sie dreht sich auf die Seite und blickt durch das Fenster in den Nachthimmel. Der Mond geht gerade auf, und die Sterne leuchten dreidimensional, so nah, als könnte sie sie greifen und in der Hand halten. Sie misst die Zeit an Faith’ gleichmäßigem Atem, und unzählige Fragen gehen ihr durch den Kopf: Wie lange können wir noch hierbleiben? Wohin sollen wir als nächstes gehen? Wie kommt meine Mutter zurecht? Wird morgen ein Reporter hier auftauchen, oder übermorgen, oder überübermorgen?
Sie setzt sich auf und zieht das Sweatshirt herunter, das sie zum Schlafen trägt. Ian hatte für Faith ein Nachthemd gekauft, nicht aber für Mariah. Sie stellt sich vor, wie er sich die bequemen aus Flanell angesehen hat und dann die eleganteren aus Seide, überlegend, welches ihr wohl besser gefallen würde. Als sie fühlt, wie brennende Röte ihre Wangen überzieht, steht sie auf und beginnt, rastlos auf und ab zu gehen. Zwecklos, von Dingen zu träumen, die doch nie passieren werden.
Sie würde liebend gern spazieren gehen, aber dazu müsste sie das Wohnzimmer durchqueren, in dem Ian schläft. Stattdessen geht sie zum Fenster und sieht hinaus. Ian lehnt an der Motorhaube des Mietwagens. Die rote Glut einer Zigarette erhellt sein Profil, das so ruhelos und besorgt wirkt wie ihr eigenes. Sie beobachtet ihn schamlos, fragt sich, was ihn nachts wachhält, und versucht, ihn Kraft ihres Willens dazu zu bringen, herüberzusehen.
Als er es schließlich tut, als ihre Blicke sich treffen, tut Mariahs Herz einen Sprung. Ertappt stützt sie sich mit beiden Händen auf die Fensterbank. Sie rühren sich nicht, sagen kein Wort, lassen es einfach geschehen, dass die Nacht ein enges Band zwischen ihnen knüpft. Dann drückt Ian die Zigarette mit dem Absatz aus, und Mariah legt sich wieder hin, beide mit dem Gedanken, dass der andere auch die Minuten bis zum Morgen zählt.
Atlanta - CNN-Studios
Larry King streicht seine tiefrote Krawatte glatt und sieht seinen Gast an. »Sind Sie soweit?«, fragt er, ohne auf Antwort zu warten, und dann blinkt das kleine Lämpchen an der Kamera auf. »Hier sind wir wieder, mit Rabbi Daniel Solomon, dem spirituellen Führer von Beit Am Hadash, einer Glaubensgemeinschaft vergleichbar mit ALEPH oder Jewish Renewal.«
»Das ist richtig«, bestätigt Rabbi Solomon, der sich auch nach zehn Minuten vor der Kamera noch unsicher fühlt. »Hallo.« Er trägt ein mottenzerfressenes
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