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Die Wahrheit des Alligators

Die Wahrheit des Alligators

Titel: Die Wahrheit des Alligators Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Massimo Carlotto
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Vorurteilen den idealen Angeklagten sehen.
    Nur so konnte das gewesen sein. Nicht nur meine Intuition sagte mir das, sondern auch die Tatsache, daß Artoni beim Mord an Piera Belli haargenau das Szenario von 1976 nachgestellt hatte. Offenbar war er sich sicher, daß er Magagnin hereinlegen würde, daß dieser also wie vor fünfzehn Jahren kurz nach der Tat auftauchen, die Leiche der Lehrerin finden und in verwirrtem Zustand davonlaufen würde, direkt in die Arme der Polizei. So erklärte sich auch die Überraschung des Gerichtsmediziners, als er feststellen mußte, daß Magagnin sich anders verhalten hatte. Trotz lebenslangen Studiums der Kriminologie hatte er einige Elemente unterschätzt, allen voran die fünfzehn Jahre Gefängnis, in denen Magagnin ständigen Kontakt zu Kriminellen gehabt hatte, die sich die Zeit mit Gesprächen über Frauen, Fußball und Verbrechen vertrieben. Über vergangene und zukünftige Verbrechen. Das war ein effektiver Grundkurs in Kriminalität gewesen. Wenn er auch keine Leuchte war, etwas hatte der Freigänger Magagnin doch dazugelernt. In der Tat hatte er, im Unterschied zum ersten Mal, nach der Entdeckung des Verbrechens daran gedacht, sich Geld und einen sicheren Unterschlupf zu besorgen.
    Daß außerdem Frau Ventura und ihr Sohn Marco das Land verlassen hatten, als das Verbrechen an Piera Belli entdeckt wurde, bestätigte meine Vermutungen.
    Alles paßte zusammen. Nun, doch nicht so ganz. Warum deckt Carlo Ventura seinen Sohn, als er herausfindet, daß dieser seine zweite Frau ermordet hat? Warum liefert er ihn nicht der Polizei aus? Und welche Rolle spielen Francesco und Selvaggia? Zwei weitere Fragen, auf die ich unbedingt eine Antwort finden mußte.
    Ich hatte gehofft, der Journalist würde detaillierte Informationen über die Santa-Lucia-Klinik herausbringen können. Aber er hatte die Mauer des Schweigens nicht durchbrechen können. Die Hoffnung, es selber zu schaffen, war bloße Illusion und Zeitverschwendung. Also versuchte ich, mir einen Weg auszudenken, um an die Informationen heranzukommen, ohne die Klinik aufsuchen zu müssen, aber ich merkte sofort, daß das nicht möglich war: Die ersten Beweise für meine Vermutung, daß der junge Ventura der Mörder war, konnte ich nur dort finden.
    Ich rief Benjamino her, erzählte ihm, was ich von Galderisi erfahren hatte, und teilte ihm auch meine labyrinthischen Gedankengänge mit.
    »Die Klinik ist ein harter Brocken für uns, Marco. Wir kennen niemand in dem Milieu, und wir können schließlich nicht mit unseren indiskreten Fragen an der Tür klopfen. Bestenfalls enden wir dann in der Zwangsjacke.«
    »Du hast recht, wir brauchen einen gut durchdachten Plan. Wir müssen uns an den Oberst wenden.«
    »Oh nein. Noch so ein Spinner«, stöhnte er.

    Camillo Piran, genannt der Oberst, war ein ehemaliger Terrorist, den wir im Gefängnis kennengelernt hatten, während er eine Haftstrafe von zwölf Jahren wegen Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung absaß. Ein echter Stratege: In seiner Bande war es seine Aufgabe gewesen, die Aktionen und Attentate zu planen und zu organisieren. Den Spitznamen hatten ihm die Mithäftlinge verpaßt wegen seiner Manie, jedes Thema mit militärischen Ausdrücken zu würzen. Er hatte seine Strafe bis auf den letzten Tag verbüßt, weil er sich geweigert hatte, Kronzeuge zu werden. »Wenn du’s nicht getan hast, wo du gar nichts mit der Sache zu tun hattest, warum sollte ich es dann tun?« hatte er einmal zu mir gesagt.
    Es war ihm schlechter ergangen als vielen anderen. Seine Frau hatte als Zeugin der Anklage ausgesagt und hatte ihre beiden Kinder so weit gebracht, jede Verbindung zu ihm abzubrechen. Darunter hatte er sehr gelitten, hatte es aber verstanden, seine Würde zu wahren. Er war mir sehr sympathisch gewesen, und ich hatte ihn oft in meine Zelle zum Essen eingeladen. Einmal, an meinem Geburtstag, hatte er im Augenblick des Zuprostens sein Glas gehoben und war mit einem »Hundert Tage wie diesen« dahergekommen, was allseits große Heiterkeit hervorrief. Ich wußte, daß er zwei Jahre zuvor entlassen worden war und jetzt in der Druckerei seines Schwagers arbeitete. Wir fanden ihn damit beschäftigt, eine Blaupause zu überprüfen. Er hatte sich nicht verändert, seit ich ihn das letzte Mal gesehen hatte. Um die fünfzig, groß und spindeldürr, hatte er trotz der tintenfleckigen Hände noch immer das Aussehen des Universitätsdozenten, der er einst gewesen war. »Herr Oberst, meine

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