Die Wahrheit des Alligators
und hielt dabei den Daumen der rechten Hand in ein Glas mit Eiswasser. Bei dem Versuch, eines der beiden »Eisen« zu laden, hatte ich ihn mir gequetscht. »Neuigkeiten?« fragte ich mit einer gewissen Beklemmung. »Ein paar. Ich hoffe, sie sind Ihnen nützlich. Ich habe mir noch einmal die Artikel durchgelesen, die ich zur Zeit des Prozesses geschrieben habe: Die drei Kinder sind nie erschienen. Ich erinnere mich, daß diese Tatsache uns Berichterstattern etwas merkwürdig erschien, so gab Carlo Ventura eine Stellungnahme ab, in der er erklärte, die Familien hätten vorgezogen, die Kinder dem Gericht fernzuhalten, ›damit sie nicht noch einmal den Schmerz und das Entsetzenc, ich zitiere wörtlich, ›über das grauenvolle Verbrechern durchmachen müssen. Was Francesco Mocellin Bianchini angeht, der heute neununddreißig Jahre alt ist, so habe ich erfahren, daß er in den Vereinigten Staaten lebt und Repräsentant einer bedeutenden italienischen Bekleidungsfirma ist. Selvaggia hingegen ist siebenunddreißig, ist nach Italien zurückgekehrt, hat einen Engländer geheiratet, einen ehemaligen Diplomaten, der zehn Jahre älter ist als sie, und leitet seit einigen Jahren ein Unternehmen. Das Paar ist kinderlos und lebt in Rom. Haben Sie etwas zum Schreiben zur Hand? Ich gebe Ihnen Adresse und Telefonnummer. Und nun kommen wir zu Marco Ventura. Er ist fünfunddreißig, und nach allem, was ich erfahren habe, scheint er eine labile, problematische Persönlichkeit zu sein, fängt viel an und bringt nichts zu Ende. Mit achtzehn war er eine Verheißung im Rugby – ich vergaß, Ihnen zu sagen, daß er eine Art Riese ist und Schuhgröße 46 trägt –, aber nach zwei Spielsaisons hat er den Sport aufgegeben. Dasselbe gilt für die Universität, für die Arbeit, die Ehe. In den letzten fünf Jahren ist er drei Mal mit der Justiz in Konflikt geraten. Versuchter Betrug und Scheckbetrug. Verfahren, die nie zur Verhandlung kamen, da die Klage zurückgezogen wurde. Raten Sie mal, wer sein Anwalt ist?«
»Alvise Sartori natürlich.«
»Genau. Er lebt immer noch bei seiner Mutter in Treviso, in einem Traumhaus nahe der Piazza Signori. Diese Einweisung in die Klinik, habe ich festgestellt, war die erste, aber auch die letzte. Sein behandelnder Arzt war der Psychiater Agostino Andreose.«
»Der offizielle Grund für die Einweisung?« fragte ich. »Weiß ich nicht. Die Klinik Santa Lucia ist ein äußerst diskretes Privatinstitut, wo vermögende Patienten behandelt werden und wo man jedes Aufsehen meidet. Marco Ventura war aber auch aus einem anderen Grund ein besonderen Patient: Sein Vater und Anwalt Sartori sind die wichtigsten Aktionäre der Klinik. Das ist alles. Ach nein, noch etwas: Die Person, die mir diese Informationen gegeben hat, sagte noch, Marco und seine Mutter seien vor ungefähr zwanzig Tagen zu einer längeren Auslandsreise aufgebrochen.«
Ich nahm ein Blatt und schrieb alles auf, was der Journalist mir erzählt hatte. Beim nochmaligen Durchlesen dachte ich, daß diese Fährte viel zu ungewisse Anhaltspunkte aufwies. Wieder steckte ich in einer Sackgasse. Ich schloß die Augen und lehnte den Kopf gegen die Sessellehne: In Gedanken kehrte ich zu dem Moment zurück, als Barbara Foscarini mich beauftragt hatte, Magagnin zu suchen, und davon ausgehend betrachtete ich in aller Ruhe noch einmal eins nach dem anderen, jedes Element in der Angelegenheit. Zum Schluß gelangte ich zu der Überzeugung, daß ich mich, um der Wahrheit auf die Spur zu kommen und den Fall definitiv abzuschließen, auf den Brief stützen mußte, den Sartori dem Untersuchungsrichter geschrieben hatte.
War eines der drei Kinder der Mörder von Evelina? In diesem Fall konnte der einzig wirklich Verdächtige nur Marco Ventura sein? Das Motiv? Eifersucht oder Wahnsinn. Er bringt die Stiefmutter um, der Vater will ihn schützen und wendet sich an Sartori. Sie beschließen, ihn verschwinden zu lassen und sperren ihn in eine Klinik. Unterdessen entpuppt sich ein unglaublicher Zufall als unverhofftes Glück: Ein drogenabhängiger Gelegenheitsdieb taucht zufällig am Tatort auf, entdeckt die Leiche und beschmiert sich mit deren Blut. Völlig schockiert flieht er und läßt sich wie ein Idiot verhaften. Von da an wird alles ganz einfach, man braucht nur hier und da etwas zurechtzurücken. Die Justiz kann nun einen Unschuldigen verurteilen, und den Weg dazu ebnen ihr die Richter selbst, die in diesem armen Kerl aus Oberflächlichkeit und aufgrund von
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