Die Wahrheit des Blutes
Arzt verschwand. Passan ging um die Blutlache herum zum Bad der Kinder. Die Wände waren von oben bis unten besudelt. An den Seiten der Badewanne klebten Blut, Fleisch, Hautfetzen und Haare.
Passan blieb an der Tür stehen. Kleine Einzelheiten drückten ihm fast das Herz ab: die blutbespritzten Zahnbürsten der Kinder, das mit Blut befleckte Badespielzeug, die bräunlichen Schlieren auf den Kacheln.
Er wich zurück und erblickte sich plötzlich im Spiegel. Endlich einmal eine eher angenehme Überraschung! Er sah zwar etwas mitgenommen, aber durchaus nicht schrecklich entstellt aus. Entlang seiner rechten Schläfe zog sich eine rote Schrunde. Die Haare auf dieser Seite waren bis zur Mitte des Schädels abgesengt. Auf der rechten Wange hatten sich Blasen gebildet. Auch seine Oberlippe war geschwollen und im Mundwinkel dunkel verkrustet.
Alles in allem war er noch einmal glimpflich davongekommen. Angesichts seines Spiegelbildes empfand er einen schwachen Trost und fühlte sich bereit, Naoko und den Kindern gegenüberzutreten. Zumindest würde er ihnen in dieser Schreckensnacht nicht noch mehr Furcht einjagen.
62
Das Wohnzimmer sah aus wie einer der Container, in denen nach Naturkatastrophen Flüchtlinge untergebracht werden. Hier allerdings gab es nur drei Flüchtlinge: Shinji, Hiroki und Naoko. Zunächst sah Passan sie nur von hinten. Sie kuschelten sich auf dem Sofa alle in dieselbe Decke. Naoko hatte ihr Haar hochgesteckt. Der Anblick der drei weißen, von einer kleinen schwarzen Kuppel überragten Nacken berührte Passan noch tiefer als der Kadaver seines Hundes oder die Spuren des Gemetzels im Bad. Diese drei seidigen Köpfe waren der Inhalt seines Lebens – und er schaffte es nicht einmal, sie zu beschützen.
Er ging um das Sofa herum und trat auf sie zu. Die Kinder freuten sich sichtlich.
»Papa!«
Ohne die geringste Ablehnung und ohne zu zögern. Auch wenn er ziemlich mitgenommen aussah, war und blieb er für sie ihr Vater. Als er seine Söhne in die Arme schloss, erhaschte er einen Blick Naokos. Auf ihrer persönlichen Richter-Skala erreichten sie die höchsten Ausschläge.
Shinji rückte ein Stück von ihm ab und betrachtete ihn genauer.
»Warum hast du keinen Verband?«
»Weil es mir schon viel besser geht.«
»Musst du nicht mehr im Krankenhaus bleiben?«, erkundigte sich Hiroki.
»Nein. Aber ich muss noch Medizin einnehmen.«
Shinji ging zu den ernsten Dingen über.
»Papa, Diego ist tot.«
»Ich weiß, Liebes. Ich denke, wir sollten ihn im Garten begraben. Mit ganz vielen Blumen.«
Er konnte den Blick nicht von Naoko wenden. Sie war sehr blass. Zwar hatte sie Tränen in den Augen, doch ihre Angst und ihre Wut waren stärker als die Trauer. In gewisser Weise ähnelte sie der Maske auf dem Monitor. Es war nicht der Ausdruck, sondern das Material. Sie sah aus wie aus lackiertem Holz geschnitzt. Nur dass die gelbliche Patina nicht aufgemalt war. Die Farbe der Angst.
Passan setzte seine Söhne ab, die sofort wieder unter die Fittiche ihrer Mutter schlüpften. Naoko war wie eine Löwin, die ihre Jungen beschützte.
»Wir müssen reden«, sagte Passan.
»Sandrine ist auf dem Weg. Die Kinder werden bei ihr weiterschlafen.«
Passan nickte und wandte sich an Fifi.
»Könntest du sie in der Zwischenzeit in Naokos Zimmer bringen? Und bleib bei ihnen.«
Nach etlichen Küssen folgten die beiden Kinder brav dem jungen Polizisten nach oben. So wie sie sich die Augen rieben, würden sie sicher schnell wieder einschlafen.
Es wurde still im Wohnzimmer. Naoko saß auf dem Sofa. Hinter ihr standen Jaffré und Lestrade, an der Tür wachten zwei weitere Polizisten. Zwar hätte Passan sie bitten können, den Raum zu verlassen, aber er wollte es Naoko nicht zu einfach machen. Immer noch hatte er die Gestalt im blutigen Kimono vor Augen.
»Es gibt da ein paar Dinge, die du nicht weißt«, begann er.
»Was du nicht sagst!«
»Das Haus wird immer noch überwacht.«
»Aber du hast mich nicht eingeweiht.«
Passan steckte die Hände in die Taschen und begann, auf und ab zugehen.
»Ich wollte dich nicht beunruhigen.«
»Idiot«, murmelte Naoko leise.
»Nach neun konnte niemand mehr die Villa betreten oder verlassen. Überall sind Kameras und Bewegungsmelder installiert. Verstehst du?«
Naoko antwortete nicht. Und ob sie verstand. Ihre Lippen zitterten. Ihre Augenlider flatterten wie die Flügel eines geblendeten Schmetterlings.
Passan stellte sich vor sie hin. Das würde ein schwieriges Verhör
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